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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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können, und vor jedem Eingang standen Wachen. Das alles schien Meister Li nicht sonderlich zu beunruhigen.
    »Ochse, im Exil in Serendip habe ich eine wertvolle Lektion in Naturkunde gelernt«, sagte er. »Wenn eine Ameise auf Nahrungssuche etwas entdeckt, kehrt sie in Windeseile mit einer Probe zum Bau zurück und schreit: »Aufwachen! Aufstehen! Schlagt Alarm! Alle Mann antreten! Ich habe unermeßliche Reichtümer entdeckt, die selbst die kühnsten Träume übersteigend Dann folgt der ganze Haufen der Ameise zurück zum Schatz. Aber sind sie etwa zufrieden mit dem, was sie sehen? Nicht, wenn von dort eine Spur weiterführt. Ameisen, die eine Spur entdecken, verfolgen diese Spur bis zur Quelle... selbst wenn sie dabei die halbe Welt durchqueren müssen. Begreifst du, wie wichtig das ist?«
    »Nein, Meister«, antwortete ich. »Du wirst es begreifen«, versprach Meister Li.
    Auf dem Markt kaufte er einen großen Topf Honig und eine Schachtel mit einem Ameisenvolk. Dann bestach er ein Dienstmädchen. Sie brachte Lotuswolke eine Nachricht. Und in der ersten bewölkten Nacht kletterten wir über die äußeren Mauern des Gouverneurspalastes, schlichen uns an den Wachen vorbei und machten uns auf den Weg zum Turm. Ich stieß dreimal den Schrei einer Eule aus. Lotuswolke machte das Spiel großen Spaß. Sie öffnete das Fenster und schüttete den Honig, den das Dienstmädchen ihr gebracht hatte, die Mauer hinunter. Als das dicke süße Rinnsal uns erreicht hatte, öffnete Li Kao die Schachtel mit den Ameisen und ließ sie frei. Voll Begeisterung und Entzücken stürzten sie sich auf den Honig, entdeckten, daß es sich um eine Spur handelte und begannen zu klettern.
    Die letzte Ameise war die größte, und sie zog einen federleichten Gazefaden hinter sich her. Als die Ameise über den Fenstersims kletterte, löste Lotuswolke den Faden und zog dreimal leicht daran. Li Kao band eine dünne Schnur am unteren Ende fest, zog ebenfalls, und Lotuswolke begann, den Faden einzuholen. Dann wurde an der Schnur eine Kordel befestigt und an der Kordel ein Seil. Lotuswolke band den Seilanfang an ihrem Bett im Zimmer fest, Li Kao hüpfte mir auf den Rücken, wenige Minuten später hatte ich eine unersteigbare Mauer erklettert und schwang mich über die Fensterbrüstung.
    »Bu-Fi!« jubelte Lotuswolke glücklich.
    Ich schüttete meine Perlen und meine Jade vor ihre Füße. »Ich habe dir viel zu erzählen!« keuchte ich. »Später«, sagte Li Kao warnend.
    Schritte näherten sich der Tür. Ich nahm Meister Li auf den Rücken und schwang mich über die Fensterbrüstung wieder nach draußen. Dann hing ich am Seil und spähte ins Zimmer. Ein Kerl mit einem teigigen Gesicht stürmte durch die Tür, stolperte durch das Zimmer, warf einen Arm voll Perlen und Jade auf meine Perlen und meine Jade, fiel auf die Knie, schlang die Arme um die Beine von Lotuswolke und preßte das Gesicht an ihre Schenkel. »Ich heiße Chia, mein Vorname ist Chen, und es ist mein beklagenswertes Los, in diesem elenden Rattenloch als Provinzgouverneur des Herzogs zu leben. Ich bete dich an, seit du mich heute morgen im Garten angelacht hast«, winselte er.
    Lotuswolke lachte glücklich, und ihre Finger spielten in seinen Haaren.
    »Ich werde dich Wu-Fi nennen«, sagte sie. Ich seufzte und begann traurig den Abstieg.
    »Wu-Fi?« sagte Meister Li, »Ochse, es liegt mir fern, mich in deine Angelegenheiten zu mischen, aber wie mir erscheint, stößt du auf gewisse Hindernisse bei deinem Versuch, Lotuswolke enger an dich zu binden.«
    »Ich liebe sie wie eh und je«, seufzte ich.
    Er klopfte mir tröstend auf die Schultern. »Zumindest wirst du nie einsam sein«, sagte er. »Du kannst zusammen mit ihren anderen Anbetern jährliche Treffen veranstalten. Die kaiserlichen Elefantenställe könnten für diesen Zweck vielleicht groß genug sein. Falls nicht, mietest du einfach eine verarmte Provinz. Wie ich gehört habe, war die Getreideernte in Hua in diesem Jahr sehr schlecht. Die Bauern müßten eigentlich entzückt sein, sechzig- oder siebzigtausend Gäste mit Geld in der Tasche zu beherbergen... was rede ich für einen Unsinn, ihr seid ja alle inzwischen arme Schlucker.«
    »Gütiger Himmel!« schrie der Kerl über uns, »an deinem Bett ist ein Seil festgebunden!«
    »Seil? Was für ein Seil?« fragte Lotuswolke.
    Das Teiggesicht spähte über die Fensterbrüstung, und unter diesen Umständen konnten wir kaum mehr tun, als ihm freundlich lächelnd zuzuwinken. Der

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