Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
genauer und entdeckte, daß ein Quader nicht ganz so exakt geschnitten und eingepaßt, sondern mit Mörtel verfugt war.
Ich sprang hinunter. Meister Li drehte sich um und verbeugte sich höflich vor der schaukelnden Leiche. »Vielen Dank für die Rückgabe des Messers«, sagte er und zog das Messer aus dem Hals des Mönchs, wodurch sich auf dem Boden eine häßliche Lache bildete. Eine halbe Stunde später war der Mörtel verschwunden, und der Quader hatte sich gelockert. Aber wie sollten wir ihn herausziehen? Meine großen, derben Finger paßten unmöglich in die schmale Fuge, und selbst Li Kaos Finger erwiesen sich als zu dick. Als er es mit dem Messer versuchte, brach die Klinge ab. Wir waren nicht weiter als zuvor, und der verdammte baumelnde Mönch grinste uns an. Ich brummte und schlug ihm in das dumm lächelnde Gesicht. Die Leiche schwang hin und her, und das Quietschen der Kette klang wie spöttisches Lachen. Li Kao betrachtete den Mönch mit zusammengekniffenen Augen.
»Ochse, schlag ihn noch einmal«, befahl er.
Ich tat es, und die Kette lachte noch lauter, während sie quietschend hin und her pendelte.
»Ich weiß es«, sagte Meister Li. »Etwas an unserem lieben Freund versuchte, mit mir zu sprechen, als ich zusah, wie er durch die Luft pendelte. Wenn ich mich nicht sehr irre, ist er wie dazu geboren, Steine aus Mauern zu ziehen.«
Ich schob den kleinen Mönch zu dem Quader hinüber, und seine Finger paßten mühelos in die Fuge. Ich drückte sie so weit wie möglich hinein, legte seine Daumen um die Kante und hielt sie fest. Wie lange ich die kalten Hände der Leiche preßte, kann ich nicht sagen, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie erstarrten. Es war unsere letzte Chance. Die zuckende Fackel wurde bereits blau, als ich vorsichtig an dem Mönch zog. Seine Finger umklammerten den Stein mit der Starre des Todes. Der Quader glitt mühelos heraus und fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. Wir konnten uns nicht freuen. Durch die Öffnung kam keine frische Luft, und als Meister Li mit der Fackel hineinleuchtete, entdeckten wir einen langen niedrigen Tunnel, von dem nach beiden Seiten zahllose Gänge abzweigten.
»Noch ein Labyrinth, aber meine alte Lunge macht nicht mehr mit«, keuchte Li Kao, und ich mußte ihm glauben, denn sein Gesicht war beinahe so blau wie die Flamme der Fackel. »Ochse, binde mich mit der Kordel der Mönchskutte an deinem Rücken fest. Wir müssen die Fackel löschen, und du mußt den Drachen abtasten, um den Weg zu finden.«
Ich band ihn mir auf den Rücken; wir paßten gerade durch die Öffnung in der Wand. Als Li Kao die Fackel löschte, schnürte es mir die Kehle zu, und ich wäre beinahe auf der Stelle erstickt. Die völlige Finsternis legte sich wie eine schwere Decke über mich, während ich vorwärtskroch, und die wenige noch vorhandene Luft stank entsetzlich. Meine Finger folgten dem Weg des grünen Jadedrachens, der sich durch die Löcher in dem Korallenanhänger wand, während ich mit der anderen Hand nach Öffnungen in der Wand tastete. Dritte links... erste links... vierte rechts... Li Kao war beinahe bewußtlos und murmelte mir unverständliche Worte ins Ohr. »Ochse... kein Tiger, sondern ein kleiner Junge... Spiele... Spielregeln ...«
Dann seufzte er, und sein Körper hing schlaff auf meinem Rücken. Ich konnte seinen Herzschlag kaum noch spüren. Mir blieb nichts anderes übrig als weiterzukriechen, und mit jedem schmerzhaften Atemzug schwand mein Bewußtsein mehr. Der Tod lockte mich, meinen Eltern zu den Gelben Quellen Unter der Erde zu folgen. Zweite rechts... zweite links...
»Meister Li, der Drachen kann uns nicht weiterführen«, keuchte ich.
Keine Antwort. Der alte weise Mann hörte mich nicht mehr, war vielleicht sogar tot. Nun hing alles von dem bißchen Verstand ab, das Nummer Zehn der Ochse besaß. Aber was sollte ich tun? Die letzte Weisung des Drachen hatte mich in eine Sackgasse, vor eine Felswand geführt, und der Drache hatte sich bis zum unteren Rand des Anhängers durchgeschlängelt. Er kroch nicht weiter, wie sollte ich es also schaffen? Umkehren wäre Selbstmord gewesen, und ich tastete verzweifelt im Dunkeln meine Umgebung ab. Ich fühlte nichts als glatten massiven Felsen. Zwar entdeckten meine Finger eine kleine Öffnung im Boden, die vielleicht groß genug für eine Maus gewesen wäre, aber sonst nichts. Keinen behauenen Stein mit einer Mörtelfuge, keinen Hebel, den man hätte drücken können, kein Schlüsselloch.
Weitere Kostenlose Bücher