Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Ich senkte den Kopf und weinte.
Es dauerte eine Weile, bis es mir gelang, über die merkwürdigen Worte nachzudenken, die Meister Li mir ins Ohr gemurmelt hatte, und es dauerte noch länger, bis mir einfiel, was er im Schlaf in der Bambuslibelle gemurmelt hatte. »Warum lauert sie nicht auf der Insel, hinter der Brücke?... Spiele. Ein kleiner Junge?« Wollte er damit sagen, der Herzog war nicht der Tiger von Ch'in, sondern nur ein Kind, und Die Hand, die Niemand Sieht hatte ihre Opfer nicht hinter der schmalen Brücke, in der Oase erwartet, weil dann die Opfer keine Chance mehr gehabt hätten, und damit ein Spiel verdorben gewesen wäre?
Mein Kopf schien voll Stroh zu sein, und mir dröhnte es in den Ohren. Ich sah den Geist des sterbenden Geizhals Shen vor mir, der für sein kleines Töchterchen betete: »Du hast Ratespiele gespielt... Du hast Ratespiele gespielt... Ratespiele... Ratespiele...« Wie hieß das Spiel, das wir mit dem Herzog von Ch'in spielten? Folge dem Drachen, so hieß es. Und welche Regeln mußte ein Kind lernen, wenn es ein Suchspiel spielte? Suche weiter! Sei auf alles gefaßt und gib nie auf. Du kannst weiter suchen, wenn du dir nur genug Mühe gibst. Der Drachen kroch nicht weiter, aber konnte er vielleicht trotzdem irgendwohin verschwinden und würde es mir gelingen, ihm zu folgen?
Meine Finger tasteten über den Boden, bis sie die winzige Öffnung im Stein gefunden hatten. Sie war etwa so groß wie mein Daumen und beinahe oval. Durch den Mangel an Luft hatte ich mich wieder in ein kleines Kind verwandelt, und ich kicherte, als ich den roten Korallenanhänger von der Kette um meinen Hals löste. Er war beinahe so groß wie mein Daumen, beinahe oval und paßte genau in die Öffnung.
»Folge dem Drachen«, kicherte ich und ließ den Anhänger los. Der Drachen fiel. Ich wartete auf seinen Aufprall. Ich wartete, wartete und hörte schließlich tief unter mir ein Klicken, als würde ein Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt, und dann ein zweites Klicken, als würde der Schlüssel umgedreht.
Der Boden unter mir gab nach. Ich rutschte gegen eine Wand, der Boden öffnete sich, und ich folgte mit Meister Li auf dem Rücken dem Drachen. Ich flog hinaus und hinunter ins Mondlicht, ins Sternenlicht und in die Luft. Meine Lungen brannten wie Feuer. Ich keuchte und japste, und Meister Li seufzte leise. Dann spürte ich, wie sein Brustkorb sich langsam hob und senkte. Wir rollten einen steilen Abhang hinunter und landeten auf etwas Glitzerndem. Der Mond beschien eine kleine tiefe Senke mitten im Steinglockenberg und einen gewaltigen Berg von Schätzen. Meine Augen suchten instinktiv auf all dem Gold und den Edelsteinen nach einem Schatten, wo kein Schatten sein sollte. Das dritte Mädchen auf dem Gemälde sah mich flehend an, und ihr Kleid war blutbefleckt, wo eine Klinge ihr Herz durchbohrt hatte.
»Habt Erbarmen mit einer treulosen Zofe«, flüsterte sie. Geistertränen rollten ihr langsam über die Wangen. »Sind tausend Jahre nicht genug?« schluchzte sie. »Ich schwöre, ich wußte nicht, was ich tat. Habt Erbarmen und tauscht dies gegen die Feder aus. Die Vögel müssen fliegen.« Dann war sie verschwunden.
Ich kroch über Diamanten und Edelsteine und riß den Deckel von dem kleinen Jadekästchen, das der Geist in den Händen gehalten hatte. Der Ginsengduft stieg mir in die Nase, aber vor mir lag nicht das Herz der Großen Wurzel Der Macht, sondern der Kopf. Und daneben lag ein winziges Bronzeglöckchen.
Mein Kopf sank müde auf die Brust, ich schloß die Augen, und der Schlaf wiegte mich wie ein kleines Kind. Ich träumte nichts.
Dritter Teil
Die Prinzessin der Vögel
22.
Der Traum der weißen Kammer
Es ist Nacht. Regen fällt auf das Dorf Ku-fu, glänzt in den Mondstrahlen, die die dünnen Wolken durchbohren, und das leise Klatschen vor meinem Fenster klingt wie das Geräusch von Tintentropfen, die von den Mäuseschnurrbarthaaren meines Schreibpinsels fallen. Ich habe mich nach besten Kräften bemüht, aber es gelingt mir nicht auszudrücken, was ich empfand, als die Arme und der Kopf der Macht die Kinder von der Schwelle des Todes zurückholten, es ihnen aber nicht gelang, sie endgültig zu heilen. Sie erwachten noch einmal, aber wieder in die fremde Welt des Hüpf-Versteck-Spiels. Sie lächelten noch einmal, lachten und sangen den Kinderreim vom Drachenkissen, dann gähnten sie, schlössen die Augen und sanken auf die Betten zurück. Und wieder fielen sie in die Tiefen ihrer
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