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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Bewußtlosigkeit.
    Menschen, denen kein Ausweg mehr bleibt, müssen sich wieder dem Aberglauben ihrer Vorfahren zuwenden. Und so banden Großeltern den Kindern Spiegel auf die Stirn, damit die Dämonen der Krankheit das Spiegelbild ihrer eigenen häßlichen Gesichter sehen und vor Entsetzen fliehen sollten. Väter riefen die Namen ihrer Kinder und schwenkten ihre Lieblingsspielzeuge an langen Stangen über den Betten hin und her, weil sie hofften, damit ihre Seelen herbeizulocken, während Mütter mit Kordeln in der Hand daneben standen, um die Seelen an den Körper zu binden, wenn sie zurückkehrten. Ich drehte mich um, rannte in das Studierzimmer des Abts und schlug die Tür hinter mir zu.
    Nur das Herz der Großen Wurzel der Macht konnte die Kinder meines Dorfes retten. Mir wurde übel vor Angst, und mein Blick fiel auf einen gerahmten Spruch aus Die Weisheit der Alten.
     
    Alle Dinge haben eine Wurzel und eine Spitze,
    alle Ereignisse ein Ende und einen Anfang;
    wer richtig versteht,
    was zuerst kommt, und was folgt,
    kommt dem Tao näher.
     
    Ich war weit davon entfernt, dem Tao näherzukommen. Kinderspiele, Kinderreime, Ginsengwurzeln, Vögel, Federn, Flöten, Kugeln, Glocken, leidende Geister und schreckliche Ungeheuer wirbelten unaufhörlich in meinem armen Kopf herum, ohne einen Sinn zu ergeben.
    Die Tür wurde geöffnet, und Meister Li betrat das Studierzimmer. Er trank nacheinander drei Becher Wein, dann setzte er sich mir gegenüber, holte das Bronzeglöckchen aus seinem Gürtel und brachte es leise zum Klingen.
    Wir hörten den Schlag einer Trommel, und dann sang die wunderbare, geschulte Stimme einer jungen Frau das Lied der großen Kurtisane, die alt wurde und das unwürdige Los auf sich nehmen mußte, einen Geschäftsmann zu heiraten. Ein zweites Läuten des Glöckchens ließ eine muntere Melodie erklingen, und wir hörten die unglaublich komische pornographische Geschichte von Goldener Lotus. Ein drittes Läuten führte zu der von Sarkasmus und unterdrücktem Zorn geprägten Geschichte von Pi Kan, den man hinrichtete, weil ein schwachköpfiger Kaiser feststellen wollte, ob es stimmte, daß das Herz eines Weisen sieben Öffnungen hat. Wir besaßen eine Flöte, die Märchen erzählte, eine Kugel, in der man lustige Bilder sah und ein Glöckchen, das Blütentrommellieder sang. Und wir sollten diese Dinge gegen Federn austauschen. Li Kao seufzte. Er steckte das Glöckchen wieder in den Gürtel und goß sich einen weiteren Becher Wein ein.
    »Ich werde diese Aufgabe zu Ende bringen, und wenn ich die Wurzeln der Heiligen Berge herausreißen, ein Segel auf dem Taishan hissen und mit der ganzen Welt über den Großen Fluß der Sterne bis vor die Tore der Großen Leere segeln muß«, sagte er grimmig. »Ochse, mein kleiner Charakterfehler hat sich als ein Geschenk des Himmels erwiesen. Wenn ich auf etwas stoße, das wirklich schlecht ist, kann ich ihm mit dem Potential an Schlechtigkeit begegnen, das in den Tiefen meiner Seele sitzt. Deshalb kann ich an einen Platz wie die Höhle der Glocken gehen und mit einem Lied auf den Lippen wieder herauskommen. Du dagegen bist der unheilbare Fall eines Menschen mit einem reinen Herzen.« Er dachte über seine Worte nach, doch ich war schneller. »Meister Li, es wären zwanzig Tonnen Schießpulver nötig, um mich von meiner Aufgabe loszureißen«, sagte ich so standhaft wie möglich, und das war nicht gerade sehr standhaft. »Außerdem müssen wir versuchen, den Schlüsselhasen zu erreichen, was bedeutet Lotuswolke, und ich werde freiwillig gegen einen Tiger kämpfen für die Gunst, in ihr Bett zu dürfen.«
    Zu meinem Erstaunen erkannte ich, daß ich die Wahrheit gesagt hatte. Der Gedanke an Lotuswolke erwies sich als wunderbarer Balsam. Ich blickte auf meine Hände und zu meiner Verwunderung zitterten sie nicht mehr.
    »Ich werde gegen ein ganzes Regiment Tiger kämpfen«, sagte ich voll Überzeugung.
    Li Kao sah mich neugierig an. Wir saßen uns schweigend gegenüber, während das Kreischen von zwei kämpfenden Katzen ins Zimmer drang, und dann hörte man Tante Hua, die sie mit dem Besen vertrieb. Li Kao zuckte mit den Schultern, streckte die Hand aus, berührte mich mit einem Finger an der Stirn und zitierte Laotse. »Gesegnet sind die Verrückten, denn sie sind die glücklichsten Menschen auf der Welt. Also gut, begehen wir beide Selbstmord. Aber heute ist Ching Ming, und du mußt deine Toten ehren. Wir machen uns morgen früh auf den Weg«, sagte er.
    Ich

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