Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
groß ist mein Leid. Du bist Ah Chen, und als du geboren wurdest, war ich nicht wirklich glücklich. Ich bin ein Bauer, und ein Bauer braucht starke Söhne, die ihm bei der Arbeit helfen. Aber noch ehe ein Jahr vergangen war, hattest du mein Herz erobert. Du bekamst Zähne, und du wurdest von Tag zu Tag klüger. Du sagtest Mama und Papa, und du sagtest es richtig. Mit drei hast du an die Tür geklopft, bist zurückgelaufen und hast gefragt: Wer ist da? Als du vier warst, besuchte uns dein Onkel, und du hast die Gastgeberin gespielt. Du hast deinen Becher gehoben und gesagt Ching!, und wir lachten. Du bist rot geworden und hast dein Gesicht mit den Händen bedeckt, aber ich weiß, du hieltest dich für sehr klug. Jetzt sagen sie mir, daß ich versuchen muß, dich zu vergessen. Aber es fällt mir schwer, dich zu vergessen.
Du hast immer ein Spielzeugkörbchen mit dir herumgetragen und hast auf einem niedrigen Hocker gesessen, um deinen Brei zu essen. Du hast das große Gebet aufgesagt und dich vor Buddha verneigt. Du hast Ratespiele gespielt und bist durch das Haus getollt. Du warst sehr tapfer. Einmal bist du gefallen und hast dir das Knie geschürft, doch du hast nicht geweint, weil du es nicht für richtig hieltest. Wenn du dir Reis oder Früchte nahmst, hast du immer in die Gesichter der anderen gesehen, um dich davon zu überzeugen, daß es richtig war, sie zu essen. Und du bist immer vorsichtig gewesen, um dir nicht die Kleider zu zerreißen.
Ah Chen, weißt du noch, welche Sorgen wir uns machten, als unsere Deiche unter der Flutwelle brachen und die Schweine an der Krankheit starben? Dann erhöhte der Herzog von Ch'in die Steuern, und man schickte mich, um Gnade von ihm zu erbitten. Es gelang mir, ihn davon zu überzeugen, daß wir die Steuern nicht bezahlen konnten. Bauern, die keine Steuern zahlen, sind für Herzöge nutzlos. Deshalb schickte er seine Soldaten, um unser Dorf zu zerstören, und so führte die Torheit deines Vaters zu deinem Tod. Jetzt bist du in die Hölle gewandert, um gerichtet zu werden, und ich weiß, das muß dich sehr ängstigen. Aber du mußt tapfer sein. Versuche, nicht zu weinen oder Lärm zu machen, denn dort ist es nicht so wie zu Hause bei deiner Familie.
Ah Chen, erinnerst du dich an Tante Yang, die Hebamme? Auch sie wurde ermordet, und sie liebte dich sehr. Sie hatte selbst keine kleine Tochter, deshalb versuche, sie zu finden. Reiche ihr die Hand und bitte sie, sich um dich zu kümmern. Wenn du vor den Yamakönigen stehst, solltest du die Händchen falten und sie bitten: Ich bin jung, und ich bin unschuldig. Ich wurde in eine arme Familie geboren, und ich war mit kärglichen Mahlzeiten zufrieden. Ich war niemals bewußt unachtsam mit meinen Schuhen und meinen Kleidchen, und ich habe nie ein Reiskorn verschwendet. Bitte beschützt mich, wenn die bösen Geister mich bedrängen. Genau das solltest du sagen, und ich bin sicher, die Yamakönige werden dich beschützen.
Ah Che, ich habe hier Suppe für dich, und ich werde Papiergeld für dich verbrennen, und der Priester schreibt dieses Gebet, das ich dir schicke. Wirst du im Traum zu mir kommen, wenn du mein Gebet hörst? Wenn dir das Schicksal ein weiteres Erdenleben bestimmt, werde ich darum beten, daß du wieder in den Leib deiner Mutter kommst. Inzwischen werde ich rufen Ah Chen, dein Vater ist hier! Ich kann nur um dich weinen und deinen Namen rufen.««1 Geizhals Shen verstummte. Ich glaubte, er sei gestorben, doch dann schlug er noch einmal die Augen auf.
»Habe ich es richtig gesagt?« flüsterte er. »Ich habe es lange geübt, und ich wollte es richtig sagen. Aber ich bin so verwirrt, und irgend etwas scheint mir falsch zu sein.«
»Ihr habt es richtig gesagt«, beruhigte ihn Meister Li leise. Geizhals Shen schien sehr erleichtert zu sein. Er schloß die Augen, und sein Atem wurde schwächer. Dann hustete er, Blut quoll aus seinem Mund, und die Seele von Geizhals Shen löste sich vom roten Staub der Erde.
Wir knieten neben Geizhals Shen nieder und falteten die Hände. In meiner Vorstellung vermischte sich das Bild von Ah Chen mit dem Bild der Kinder von Ku-fu, und ich konnte nicht sprechen, denn die Tränen strömten mir über das Gesicht. Doch Li Kaos Stimme klang fest und klar.
»Geizhals Shen, Eure Freude ist groß«, sagte er. »Ihr seid aus dem Gefängnis Eures Körpers befreit, und Eure Seele ist mit der kleinen Ah Chen wiedervereint. Bestimmt werden die Yamakönige Euch erlauben, als Baum wiedergeboren zu
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