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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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abgestützt waren. Vier weitere
rote Quasten verrieten uns, daß wir auf dem richtigen Weg waren. Schließlich
bog die undeutliche kleine Gestalt vor uns in einen Seitengang ab, und ihre
Stimme drang heraus: »Sie haben ihn hier hereingetragen .«
    Wir erreichten die Öffnung
und traten in eine kleine Höhle. Das Mädchen war verschwunden, aber an der
rückwärtigen Wand bemerkte ich eine andere Öffnung. Die Höhle hatte einmal als
Vorratsraum gedient, und an einer Wand standen alte Metallregale mit
Werkzeugen. Uralte Holzpfeiler stützten Balkenkonstruktionen, auf denen die
rissige Decke ruhte. Ein Pfeiler war gesplittert, und jemand hatte ein Seil um
die Bruchstelle geschlungen.
    Etwas stimmte nicht. Ich
spürte es im Bauch, nicht im Kopf. Ich zwang mich, langsam die Augen an den
Höhlenwänden entlanggleiten zu lassen. Plötzlich riß ich sie auf. Ein Seil? Ein
Seil, das sieben Jahrhunderte überdauert hatte und nicht einmal ausgefranst
war?! Ich ging so weit vorwärts, daß ich die Rückseite des Pfeilers sah. Das
Seil verschwand in einem Loch in der Wand. Vor meinen Augen spannte es sich
langsam. Ich fluchte und hob das Beil, aber es war zu spät. Noch ehe die
Schneide das Seil erreichte, straffte es sich ruckartig, und der morsche alte
Pfeiler brach entzwei. Andere Pfeiler ächzten protestierend. Sie bogen sich
durch, und plötzlich senkte sich die ganze Decke um zwei Fuß. Die gemarterten
Stützen stöhnten und brachen mit ohrenbetäubendem Krachen zusammen.
Holzsplitter schössen durch die Höhle wie gefährliche Speere, Felsbrocken
polterten auf den Boden, und die ganze Rahmenkonstruktion, die die Decke stützte,
wölbte sich in der Mitte nach unten. Ich sprang vorwärts, als die Decke immer
tiefer kam, stellte mich unter den mittleren Stützpfeiler und stemmte mich mit
aller Macht dagegen. Natürlich konnte ich ihn nicht hochheben. Aber er
veränderte wenigstens vorübergehend seine Lage nicht. »Raus !« schrie ich.
    Ich warf einen Blick
zurück. Mein Verstand weigerte sich zu glauben, was meine Augen ihm sagten. Es
konnte nicht sein. Es konnte nicht sein! Aber mein Herz glaubte, was
meine Augen ihm sagten, und erstarrte zu Eis. Mondkind kniete neben Klagende
Morgendämmerung und hielt sie in den Armen. Diesmal würde ihr keine Medizin der
Welt mehr helfen. Ein gesplittertes Stück von der Stärke eines Speerschafts war
ihr wie der Bolzen eines Katapults in die Brust gedrungen. Sie war so tot wie
Tou Wan. Mondkind wollte sie nicht hierlassen, wo ihre Leiche zerschmettert
werden würde. Er hob sie auf und trug sie zurück zum Ausgang der Höhle. Dann
sah ich nichts mehr, weil ich blind vor Tränen war. Es klang, als stöhne die
Decke klagend auf, während sie auf mir lastete. Ich konnte mich nicht bewegen,
sonst wäre alles zusammengebrochen.
    Ich spürte Meister Lis Hand
auf der Schulter. »Ist das Gewicht gleichmäßig verteilt ?« fragte er. »Nein«, keuchte ich, »vorne ist mehr Last .« Meister Li eilte zu den Gestellen mit den Werkzeugen, von denen manche sehr
schwer und groß waren. Er schob eine Eisenstange in meine Richtung und stellte
sie unter den
    Deckenbalken. Dann kämpfte
er mit der nächsten. Als sie beide sicher rechts und links von mir standen,
beugte ich die Knie und ließ den Mittelbalken so langsam wie möglich ab. Er
bebte, als sei er lebendig, und er würde nicht viel länger halten. Schon berührte
er die Eisengestelle. Meister Li stand im Höhleneingang. Ich ließ los, sank zu
Boden, stieß mich ab und sprang rückwärts zur Öffnung. Ich schaffte es gerade
bis zum Gang, als der Balken brach. Meister Li hüpfte auf meinen Rücken, und
ich begann zu rennen. Das Getöse der einstürzenden Decke machte uns beinahe
taub. Der Gang bebte, Staubwolken stiegen auf, Steine und Holzsplitter flogen
durch die Luft. Ich stürmte blindlings weiter, aber dann sah ich in Dunkelheit
und Staub einen Lichtschein. Mondkind hatte sich Klagende Morgendämmerung über
die Schulter gelegt und winkte mit seiner Fackel.
    Ich hatte schon einmal
erlebt, wie Meister Li mit seinem unglaublichen Gedächtnis den Rückweg durch
ein Labyrinth fand, und nun schaffte er es wieder. Zweite Öffnung rechts,
dritte links, erste links, und so ging es ohne Zögern weiter, obwohl uns die
Steine um die Ohren sausten und die Felsen wie Tiger brüllten, während sie sich
übereinanderschoben. Wir rannten durch eine Öffnung und stellten fest, daß wir
in der Grotte mit dem Teich angelangt waren. Im nächsten Augenblick hatten

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