Meister Li und der Stein des Himmels
ich
spürte das Pulsieren einer Kraft wie den Schlag eines Herzens. Ich spürte
zuerst ein Kribbeln in den Fingern und dann im ganzen Körper. Es strömte durch
jeden Nerv wie ein wunderbares Stärkungsmittel. Meine Schwäche verflog, und ich
hatte das deutliche Gefühl, ich könnte im nächsten Augenblick anfangen zu
blühen wie eine Blume. Meister Li bedeutete mir mit einer Geste, den Stein
weiterzugeben, und ich reichte ihn Klagender Morgendämmerung. Sie begann zu
weinen, obwohl gleichzeitig ein Lächeln auf ihre Lippen trat. Als Mondkind ihn
entgegennahm, wurde er leichenblaß und preßte ihn an die Brust, als wolle er
mit ihm verschmelzen.
Meister Li ließ sich den
Stein zurückgeben und hielt ihn ins Fackellicht. »Der Verfasser vom Traum
der Roten Kammer hat den Stein nie gesehen. Aber ich möchte wetten, daß er
in der Tat eine der Annalen von Himmel und Erde gesehen hat, und daß dort nur
stand, der Stein habe einen Fehler. Böse war die Blume, aber Tsao Hsueh Chin
schrieb das Böse auch dem Stein zu, weil zwei große Männer, die ihn einmal
besaßen, so eigenartig reagiert hatten. Ssu-ma Chien hat den Stein nie in der
Hand gehalten. Aber wegen der Reaktionen von Lao Tzu und Chuang Tzu hielt auch
er ihn für böse. Unter anderen Umständen hätte Ssu-ma vielleicht der Form des
Steins größere Aufmerksamkeit gewidmet und wäre zu einem anderen Schluß
gekommen .«
Meister Li lächelte uns an
und zitierte Ssu-ma: »Glatte Fläche steigt zu runder konkaver Schalenform
an... Woran denkt ihr dabei ?«
Mondkind und ich dachten an
nichts, aber Klagende Morgendämmerung bekam leuchtende Augen.
»An einen idealen
Tuschstein mit einer Stelle, um den Tuschstift zu schaben, und einer
Vertiefung, um den Pinsel einzutauchen«, sagte sie.
»Kluges Mädchen! Natürliche
Tuschsteine sind hoch geschätzt, und diesen machte man zuerst Lao Tzu und dann
Chuang Tzu zum Geschenk. Ich würde beinahe alles dafür geben, wenn ich hätte
dabeisein können, als die großen Männer ihn zum ersten Mal benutzten«, sagte
Meister Li. »Sie tauchten die Pinsel in die Vertiefung, strichen dann über die
glatte Fläche und kamen so in Kontakt mit einem Stein, der vom Himmel berührt
worden war. Sie starrten ungläubig auf das Pergament, als sie mit ihren Pinseln
die Schrift der Götter hervorbrachten. Sie hätten kein Wort über den Stein
verlieren müssen und behaupten können, ihr eigenes Genie sei am Werk. Die
Versuchung muß ungeheuer gewesen sein. Deshalb riefen sie: Er ist böse ! und warfen den Stein weit von sich. Jeder, der sie
hörte, mußte annehmen, sie meinten damit den Stein und nicht die Versuchung,
die mit ihm einherging .«
Er legte den Stein in
seinen Beutel und verschloß ihn mit einem Lederriemen.
»Es ist nur ein Stück. Es
gibt noch zwei andere«, sagte er grimmig. »Als der Lachende Prinz von den Toten
auferstand, war er völlig wahnsinnig, beinahe nicht bei Sinnen und konnte
unmöglich vernünftig denken. Ein anderer hat es für ihn übernommen. Irgendwo
hier unten ist der eigentliche Kopf, der Prinz Liu Pao in seiner Gewalt hat. Es
sei denn...«
Er verstummte. Wir wußten,
was er dachte. Mit blassen, angestrengten Gesichtern machten wir uns ans Werk
und entfernten methodisch die Gesichtstücher der Munteren Mönche. Wir fanden
nur gebleichte Totenschädel oder andere aus neuerer Zeit, an denen noch Haut
oder Haare hingen. Mondkind bekam beinahe einen Herzschlag, als sich in den
leeren Augenhöhlen eines Schädels Lider zu bewegen schienen. Aber im nächsten
Moment flatterte eine erschreckte Fledermaus heraus. Dem Prinzen mochte
vielleicht etwas Schreckliches widerfahren sein, doch zumindest war er keiner
der Mönche.
Wir nahmen Fackeln aus den
Halterungen und suchten den Boden ab. Es dauerte beinahe eine Stunde, und
plötzlich stieß Mondkind einen Freudenschrei aus. Am Eingang eines Seitengangs
lag eine rote Quaste. Wir griffen wieder nach unseren Waffen. Ich ging voran,
und Klagende Morgendämmerung gab uns Rückendeckung.
Wäre es dem Prinzen nicht
gelungen, eine Spur zu hinterlassen, hätten wir uns im Handumdrehen verirrt. Es
war ein Labyrinth im Labyrinth im Labyrinth, und die Gänge zweigten nach allen
Richtungen ab. Überall hielten schwere Holzverschalungen die Decken, und wir
mußten uns vorsichtig bewegen, um die Stützbalken nicht zu streifen. Wir
begannen zu flüstern, als könne durch ein lautes Wort das ganze Grab über uns
einstürzen. Und was für ein Grab war das! Zimmer folgte auf
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