Meister Li und der Stein des Himmels
dem
Schrein?«
»Ja ... aber dann war er
überhaupt nicht lustig«, erzählte das Mädchen leicht schmollend. »Er kannte
keine Spiele, und er
wurde unangenehm, wenn ich
nicht den Stein singen ließ, der ihn beruhigte. Als ich ihn fragte, ob er nicht
noch andere Freunde hätte, brachte er diese Mönche. Mit ihnen war es auch nicht
lustiger .«
»Vergißt du nicht etwas ?« fragte Meister Li scherzhaft. »Du hattest doch zwei
andere Freunde, nicht wahr? Zwei Männer, die von draußen kamen. Sie haben dich
die Stufen hinaufgetragen, damit du ins Wasser rutschen konntest. Dann hast du
mit dem Bogen geschossen, bist wieder zur Rutschbahn zurück, und eines Tages
hast du herausgefunden, wie man in die Grabkammer kommt .« Sie zupfte an ihrem Gewand. »Ja«, flüsterte sie. »Und dein anderer Freund lag
zu dieser Zeit noch im Sarg. Erinnerst du dich ?« fragte Meister Li freundlich. »Du hast die Männer gebeten, den Deckel
abzunehmen, nicht wahr? Du hattest bereits herausgefunden, was es mit der
Eisenplatte vor dem Schreibpult auf sich hatte. Dann standen die Männer dort,
weil du sie bezahlen wolltest. Es muß schwierig gewesen sein, den Hebel
herumzuwerfen ... « Tränen mischten sich in ihre schöne Stimme wie Perlen, die
langsam durch Nektar nach unten sinken. »Ich wollte es nicht tun, aber sie
hätten allen von dem Raum voll Gold und dem Jadegewand erzählt, und ich wußte, ich
mußte es geheimhalten. Ich muß alles geheimhalten. Ich kann mich nicht mehr
erinnern warum, aber ich weiß, es ist wichtig. Wolf wird eines Tages
zurückkommen und es mir sagen .«
»Es kann sehr schwer sein,
ein Geheimnis zu wahren«, sagte Meister Li mitfühlend. »Nachts bist du in die
Welt hinaufgestiegen, hast an den Fenstern gelauscht und manches gehört. Eines
Nachts bist du in die Höhle zurückgekommen und hast deinem Freund, der so
schlecht riecht, erzählt, daß ein Mönch aus dem Kloster eine Handschrift von
jemandem namens Ssu-ma Chien besaß. Und dein Freund hat dir erzählt, daß Ssu-ma
den Zugang zu dem Grab entdeckt hatte . So war es doch ?« »Ja«, flüsterte sie.
»Danach hast du an einem
anderen Fenster gelauscht und erfahren, daß der Mönch die Handschrift kopiert
hatte. Dein Freund, der so schlecht riecht, mußte diese Sache auch in Ordnung
bringen .«
»Ja«, flüsterte sie. »Ihr
seid dort gewesen! Ihr und Euer Freund mit den Haaren und den Tuschflecken.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte glockenhell. »Euer Freund hat wirklich sehr
komische Haare. Wollt Ihr sehen, wohin sie ihn gebracht haben ?«
Meister Li nahm einen
Schluck und steckte den Weinschlauch weg. »Das wäre keine schlechte Idee«,
sagte er trok-ken, »zeig uns den Weg, Feuermädchen .« Mir brummte der Kopf. Meister Lis Worte waren wie wendige Eidechsen durch die
Spalten in meinen Granitkopf geschlüpft - blitzschnell hierhin und dorthin,
reglos verharrend und vorsichtig auf eine Bedeutung zukriechend. Er hatte das
Mädchen soweit gebracht, daß es berichtete, wie und weshalb Verbrechen begangen
worden waren, und daß der Lachende Prinz sie geplant hatte. Aber der Lachende
Prinz war nicht bei Verstand gewesen. Plötzlich begriff ich, Meister Li hatte
klargestellt, daß nur der Lachende Prinz oder das Mädchen für das
Geschehen verantwortlich gewesen sein konnte. Mit Sicherheit hatte sie die
beiden Gärtner umgebracht, und sie besaß ein Stück des Steins. Aber war sie nicht auch verrückt? Sie hielt sich in einiger Entfernung, als wir zu der
Plattform hinaufkletterten, und verschwand wie ein scheues Reh in einem der
Seitengänge. Ihre schöne Stimme drang aus der Dunkelheit, als sie sang:
»Ein Junge, der stirbt,
stirbt nicht vergebens, Er kommt wieder auf dem Großen Rad des Lebens. Ein
Mädchen, das trauert, und trinkt dies mit Lachen, Wird von einem Kuß wieder
erwachen .«
Meister Li brummte und
deutete nach unten. Ich verstand, warum er dem Mädchen folgte: Auf dem Boden
lag wieder eine rote Quaste. Sie mochte verrückt sein, aber sie führte uns in
die richtige Richtung.
»Ein Kuß wird dem Schlaf
ein Ende machen,
Und ein Feuermädchen
wird wieder lachen.
Dann trifft der heilige
Pfeil den Bösen,
Und wird das Tal der
Seufzer erlösen .«
Die lieblichen Töne
verhallten in der Ferne, und die Stimme des Mädchens erklang irgendwo im Dunkeln
vor uns. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber Wolf wird es mir verraten, wenn
er kommt«, sagte sie zuversichtlich. Wir folgten gewundenen Gängen, die alle
mit morschem alten Holz
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