Meistererzählungen
den Abgrund zu tauchen.
Auf schwankenden Knien hielt er sich Stunde um
Stunde rastlos unterwegs. Auf den Schienen einer Bahnlinie, an die der Weg ihn geführt hatte, lag er einige Zeit, schlummerte sogar ein, den Kopf auf dem Ei-482
sen, erwachte wieder und hatte vergessen, was er wollte, stand auf, wehte taumelnd weiter, Schmerzen an den Sohlen, Qualen im Kopf, zuweilen fallend, von einem Dorn verletzt, zuweilen leicht und wie schwebend, zuweilen Schritt um Schritt mühsam bezwin gend.
›Jetzt reitet mich der Teufel reif!‹ sang er heiser vor sich hin. Reif werden! Unter Qualen fertig gebraten, zu Ende ge röstet werden, wie der Kern im Pfi rsich, um reif zu sein, um sterben zu können!
Ein Funke schwamm hier in seiner Finsternis, an den hing er alsbald alle Inbrunst seiner zerrissenen Seele. Ein Ge danke: es war nutzlos, sich zu töten, sich jetzt zu töten, es hatte keinen Wert, sich Glied für Glied auszurotten und zu zerschlagen, es war nutzlos! Gut aber und erlösend war es, zu leiden, unter Qualen und Tränen reif gegoren, unter Schlägen und Schmerzen fertig geschmiedet zu werden. Dann durfte man sterben, und dann war es ein gutes Sterben, schön und sinnvoll, das Seligste der Welt, seliger als jede Lie besnacht: ausgeglüht und völlig hingegeben in den Schoß zu rückzufallen, zum Erlöschen, zum Erlö-
sen, zur Neugeburt. Solch ein Tod, solch ein reifer und guter, edler Tod allein hatte Sinn, nur er war Erlösung, nur er war Heimkehr. Sehn
sucht weinte in seinem
Herzen auf. Oh, wo war der schmale, schwere Weg, wo war die Pforte? Er war bereit, er sehnte sich mit jeder Zuckung seines von Ermattung zitternden Lei bes, seiner von Todespein geschüttelten Seele.
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Als der Morgen am Himmel aufgraute und der bleier-ne See im ersten kühlen Silberblitz erwachte, stand der Gejagte in einem kleinen Kastanienwalde, hoch über See und Stadt, zwischen Farnkraut und hohen, blühenden Spiräen, feucht vom Tau. Mit erloschenen Augen, doch lächelnd, starrte er in die wunderliche Welt. Er hatte den Zweck seiner triebhaf ten Irrfahrt erreicht: er war so todmüde, daß die geängstigte Seele schwieg. Und, vor allem, die Nacht war vorbei! Der Kampf war gekämpft, eine Gefahr war überstanden. Von der Erschöpfung ge-fällt, sank er wie ein Toter zwischen Farn und Wurzeln auf den Waldboden, den Kopf ins Heidelbeer kraut, vor seinen versagenden Sinnen schmolz die Welt hin weg.
Die Hände ins Gekräut geballt, Brust und Gesicht an der Erde, gab er sich hungernd dem Schlafe hin, als sei es der ersehnte letzte.
In einem Traume, von dem nur wenige Bruchstük-
ke ihm nachher erinnerlich waren, sah er folgendes: An einem Tor, das wie der Eingang zu einem Th
eater aus-
sah, hing ein gro ßes Schild mit einer riesigen Aufschrift: sie hieß (das war un entschieden) entweder ›Lohengrin‹
oder ›Wagner‹. Zu die sem Tore ging er hinein. Drinnen war eine Frau, die glich der Wirtsfrau von heute nacht, aber auch seiner eigenen Frau. Ihr Kopf war entstellt, er war zu groß, und das Gesicht zu ei ner fratzenhaften Maske verändert. Widerwille gegen diese Frau ergriff ihn mächtig, er stieß ihr ein Messer in den Leib. Aber eine andere Frau, wie ein Spiegelbild der ersten, kam 484
von hinten über ihn, rächend, schlug ihm scharfe, starke Krallen in den Hals und wollte ihn erwürgen.
Beim Aufwachen aus diesem tiefen Schlaf sah er
verwun dert Wald über sich und war steif vom harten Liegen, doch erfrischt. Mit leiser Beängstigung klang der Traum in ihm nach. Was für seltsame, naive und negerhafte Spiele der Phantasie! dachte er, einen Augenblick lächelnd, als ihm die Pforte mit der Auff orderung zum Eintritt in das Th
eater ›Wagner‹ wieder einfi el. Welche
Idee, sein Verhältnis zu Wagner so darzustellen! Dieser Traumgeist war roh, aber ge nial. Er traf den Nagel auf den Kopf. Und er schien alles zu wissen! Das Th eater
mit der Aufschrift ›Wagner‹, war das nicht er selbst, war es nicht die Auff orderung, in sich selbst einzutreten, in das fremde Land seines wahren Innern? Denn Wagner war er selber – Wagner war der Mörder und Gejagte in ihm, aber Wagner war auch der Komponist, der Künstler, das Genie, der Verführer, die Neigung zu Lebenslust, Sin nenlust, Luxus – Wagner war der Sammelname für alles Un terdrückte, Untergesunkene, zu kurz Gekommene in dem ehemaligen Beamten Friedrich Klein. Und
›Lohengrin‹ – war nicht auch das er selbst, Lohengrin, der irrende Ritter mit dem geheimnisvollen
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