Meistererzählungen
Journalist an der Grenze entgegen, ein angenehmer junger Mann von hüb scher Gestalt, und ersuchte mich, vor dem Betreten des Lan des ihn einer kurzen Darlegung meiner Weltanschauung und speziell meiner Ansich-ten über die Massageten zu würdigen. Dieser hübsche Brauch war also auch hier inzwischen einge führt worden. »Mein Herr«, sagte ich, »lassen Sie mich, der ich Ihre herrliche Sprache nur unvollkommen beherr-sche, mich auf das Unerläßlichste beschränken. Meine Weltan schauung ist diejenige des Landes, in welchem ich jeweils reise, dies versteht sich ja wohl von selbst.
Was nun meine Kenntnisse über Ihr hochberühmtes Land und Volk betriff t, so stammen sie aus dem Buch
›Klio‹ des großen Herodot. Er füllt von tiefer Bewunderung für die Tapferkeit Ihres gewal tigen Heeres und für das ruhmreiche Andenken Ihrer Hel denkönigin Tomyris, habe ich schon in früheren Zeiten Ihr Land zu besuchen die Ehre gehabt, und habe diesen Besuch nun endlich erneuem wollen.«
»Sehr verbunden«, sprach etwas düster der Mas-
sagete. »Ihr Name ist uns nicht unbekannt. Unser Propagandamini sterium verfolgt alle Äußerungen des Auslandes über uns mit größter Sorgfalt, und so ist uns nicht entgangen, daß Sie der Verfasser von dreißig Zeilen über massagetische Sitten und Bräuche sind, die Sie in einer Zeitung veröff entlicht haben. Es wird mir eine Ehre sein, Sie auf ihrer diesmaligen Reise durch unser 527
Land zu begleiten und dafür zu sorgen, daß Sie bemerken können, wie sehr manche unsrer Sitten sich seither verändert haben.«
Sein etwas fi nsterer Ton zeigt mir an, daß meine frü-
heren Äußerungen über die Massageten, die ich doch so sehr liebte und bewunderte, hier im Lande keineswegs vollen Beifall ge funden hatten. Einen Augenblick dachte ich an Umkehr, ich erinnerte mich an jene Königin Tomyris, die den Kopf des großen Cyrus in einen mit Blut gefüllten Schlauch gesteckt hatte, und an andere rassige Äußerungen dieses lebhaften Volksgeistes. Aber schließlich hatte ich meinen Paß und das Visum, und die Zeiten der Tomyris waren vorüber.
»Entschuldigen Sie«, sagte mein Führer nun etwas freund licher, »wenn ich darauf bestehen muß, Sie erst im Glaubens bekenntnis zu prüfen. Nicht daß etwa das Geringste gegen Sie vorläge, obwohl Sie unser Land schon früher einmal be sucht haben. Nein, nur der For-malität wegen, und weil Sie sich etwas einseitig auf Herodot berufen haben. Wie Sie wis sen, gab es zur Zeit jenes gewiß hochbegabten Joniers noch keinerlei offi
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ziellen Propaganda- und Kulturdienst, so mö gen ihm seine immerhin etwas fahrlässigen Äußerungen über unser Land hingehen. Daß hingegen ein heutiger Autor sich auf Herodot berufe, und gar ausschließlich auf ihn, können wir nicht zugeben. – Also bitte, Herr Kollege, sagen Sie mir in Kürze, wie sie über die Massageten denken und was Sie für sie fühlen.«
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Ich seufzte ein wenig. Nun ja, dieser junge Mann war nicht gesonnen, es mir leicht zu machen, er bestand auf den Förmlichkeiten. Hervor also mit den Förmlichkeiten! Ich be gann: »Selbstverständlich bin ich darüber genau unterrichtet, daß die Massageten nicht nur das älteste, frömmste, kulti vierteste und zugleich tapferste Volk der Erde sind, daß ihre unbesieglichen Heere die zahl-reichsten, ihre Flotte die größte, ihr Charakter der un-beugsamste und zugleich lie benswürdigste, ihre Frauen die schönsten, ihre Schulen und öff entlichen Einrichtungen die vorbildlichsten der Welt sind, sondern daß sie auch jene in der ganzen Welt so hochge schätzte und manchen anderen großen Völkern so sehr man gelnde Tugend in höchstem Maße besitzen, nämlich gegen Fremde im Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit gütig und nachsichtig zu sein und nicht von jedem armen Fremdling zu erwarten, daß er, einem geringeren Lande entstammend, sich selbst auf der Höhe der massagetischen Vollkommenheit be fi nde. Auch hierüber werde ich nicht ermangeln, in meiner Heimat wahrheitsgetreu zu berichten.«
»Sehr gut«, sprach mein Begleiter gütig, »Sie haben in der Tat bei der Aufzählung unserer Tugenden den Nagel, oder vielmehr die Nägel auf den Kopf getroff en.
Ich sehe, daß Sie über uns besser unterrichtet sind, als es anfangs den An schein hatte, und heiße Sie aus treuem massagetischem Her zen aufrichtig in unserem schönen Lande willkommen. Ei nige Einzelheiten in Ihrer Kennt-529
nis bedürfen ja wohl noch der Ergänzung. Namentlich ist es mir
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