Meistererzählungen
aufgefallen, daß Sie unsre hohen Leistungen auf zwei wichtigen Gebieten nicht erwähnt haben: im Sport und im Christentum. Ein Massagete, mein Herr, war es, der im internationalen Hüpfen nach rückwärts mit verbundenen Augen den Weltrekord mit 11,098 er-zielt hat.«
»In der Tat«, log ich höfl ich, »wie konnte ich daran nicht denken! Aber Sie erwähnten auch noch das Christentum als ein Gebiet, auf dem Ihr Volk Rekorde aufge-stellt habe. Darf ich darüber um Belehrung bitten?«
»Nun ja«, sagte der junge Mann. »Ich wollte ja nur andeu ten, daß es uns willkommen wäre, wenn Sie über diesen Punkt Ihrem Reisebericht den einen oder andern freundlichen Superlativ beifügen könnten. Wir haben zum Beispiel in einer kleinen Stadt am Araxes einen alten Priester, der in sei nem Leben nicht weniger als 63 000 Messen gelesen hat, und in einer andern Stadt gibt es eine berühmte moderne Kirche, in welcher alles aus Zement ist, und zwar aus einheimischem Zement: Wände, Turm, Böden, Säulen, Altäre, Dach, Tauf stein, Kanzel usw., alles bis auf den letzten Leuchter, bis auf die Opferbüchsen.«
Na, dachte ich, da habt ihr wohl auch einen zemen-tierten Pfarrer auf der Zementkanzel stehen. Aber ich schwieg.
»Sehen Sie«, fuhr mein Führer fort, »ich will off en gegen Sie sein. Wir haben ein Interesse daran, unseren 530
Ruf als Chri sten möglichst zu propagieren. Obgleich nämlich unser Land ja seit Jahrhunderten die christliche Religion angenommen hat und von den einstigen massagetischen Göttern und Kul ten keine Spur mehr vorhanden ist, gibt es doch eine kleine, allzu hitzige Partei im Lande, welche darauf ausgeht, die al ten Götter aus der Zeit des Perserkönigs Cyrus und der Kö nigin Tomyris wieder einzuführen. Es ist dies lediglich die Schrulle einiger Phantasten, wissen Sie, aber natürlich hat sich die Presse der Nachbarländer dieser lächerlichen Sache bemächtigt und bringt sie mit der Reorganisation unseres Heerwesens in Verbindung. Wir werden verdächtigt, das Christentum abschaff en zu wollen, um im nächsten Krieg auch noch die paar letzten Hemmungen im An-wenden aller Vernichtungsmittel leichter fallenlassen zu können. Dies der Grund, warum eine Betonung der Christlichkeit unseres Landes uns willkommen wäre.
Es liegt uns natürlich fern, Ihre objektiven Berichte im geringsten beeinfl ussen zu wol len, doch kann ich Ihnen immerhin unter vier Augen anver trauen, daß Ihre Bereitschaft, etwas Weniges über unsere Christlichkeit zu schreiben, eine persönliche Einladung bei unserm Reichskanzler zur Folge haben könnte. Dies neben bei.«
»Ich will es mir überlegen«, sagte ich. »Eigentlich ist Chri stentum nicht mein Spezialfach. – Und nun freue ich mich sehr darauf, das herrliche Denkmal wiederzusehen, das Ihre Vorväter dem heldenhaften Spargapises errichtet haben.«
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»Spargapises?« murmelte mein Kollege. »Wer soll das denn sein?«
»Nun, der große Sohn der Tomyris, der die Schmach, von Cyrus überlistet worden zu sein, nicht ertragen konnte und sich in der Gefangenschaft das Leben nahm.«
»Ach ja, natürlich«, rief mein Begleiter, »ich sehe, Sie lan den immer wieder bei Herodot. Ja, dies Denkmal soll in der Tat sehr schön gewesen sein. Es ist auf sonderbare Weise vom Erdboden verschwunden. Hören Sie! Wir haben, wie Ihnen bekannt ist, ein ganz ungeheures Interesse für Wissen schaft, speziell für Altertumsforschung, und was die Zahl der zu Forschungszwecken aufgegrabenen oder unterhöhlten Quadratmeter Landes betriff t, steht unser Land in der Welt statistik an dritter oder vierter Stelle. Diese gewaltigen Aus grabungen, welche vorwiegend prähistorischen Funden gal ten, führten auch in die Nähe jenes Denkmals aus der Tomyris-Zeit, und da gerade jenes Terrain große Ausbeute, na mentlich an massagetischen Mammutknochen, versprach, versuchte man in gewisser Tiefe das Denkmal zu untergra ben.
Und dabei ist es eingestürzt! Reste davon sollen aber im Museum Massageticum noch zu sehen sein.«
Er führte mich zum bereitstehenden Wagen, und in leb hafter Unterhaltung fuhren wir dem Innern des Landes ent gegen.
(1927)
Der Bettler
Vor Jahrzehnten, wenn ich an die ›Geschichte mit dem Bettler‹ dachte, war sie für mich eine Geschichte, und es schien mir nicht unwahrscheinlich und auch nicht besonders schwierig, daß ich sie eines Tages erzählen würde. Aber daß das Erzählen eine Kunst sei, deren Voraussetzungen uns Heutigen, oder doch mir, fehlen und deren Ausübung
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