Meistererzählungen
und das alles vergessen.
Um nur etwas zu tun und mich leben zu fühlen, beschloß ich, vollends auf den Berg zu steigen, so mühsam es von hier aus war. Da droben war man hoch über dem Städtchen und konnte in die Ferne sehen. Im Sturm lief ich die Halde hinan bis zum oberen Felsen, klemmte mich zwischen den Steinen empor und zwängte mich auf das hohe Gelände, wo der un wirtliche Berg in Gesträuch und lockeren Felstrümmern ver lief. In Schweiß und Atemklemme kam ich hinan und atmete befreiter im schwachen Luftzug der sonnigen Höhe. Verblü hende Rosen hingen locker an den Ranken und ließen müde blasse Blätter sinken, wenn ich vorüberstreifte. Grüne kleine Brombeeren wuchsen überall und hatten nur an der Sonnen seite den ersten schwachen Schimmer von metallischem Braun. Distelfalter fl ogen ruhig in der stillen Wärme einher und zogen Farbenblitze durch die Luft, auf einer bläulich überhauchten Schafgarben-dolde saßen zahllose rot und schwarz gefl eckte Käfer, eine sonderbare lautlose Versamm lung, und bewegten automatenhaft ihre langen, hageren Beine. Vom Himmel waren längst alle Wolken verschwunden, er stand in reinem Blau, von den schwarzen Tannenspit zen der nahen Waldberge scharf durchschnitten.
Auf dem obersten Felsen, wo wir als Schulknaben stets un sere Herbstfeuer angezündet hatten, hielt ich an und wen dete mich um. Da sah ich tief im halbschat-225
tigen Tale den Fluß aufglänzen und die weißschaumi-gen Mühlenwehre blit zen, und eng in die Tiefe gebettet unsere alte Stadt mit brau nen Dächern, über denen still und steil der blaue mittägliche Herdrauch in die Lüfte stieg. Da stand meines Vaters Haus und die alte Brük-ke, da stand unsere Werkstatt, in der ich klein und rot das Schmiedefeuer glimmen sah, und weiter fl ußab die Spinnerei, auf deren fl achem Dache Gras wuchs und hinter deren blanken Scheiben mit vielen andern auch die Berta Vögtlin ihrer Arbeit nachging. Ach die! Ich wollte nichts von ihr wissen.
Die Vaterstadt sah wohlbekannt in der alten Vertrautheit zu mir herauf mit allen Gärten, Spielplätzen und Winkeln, die goldenen Zahlen der Kirchenuhr glänzten listig in der Sonne auf, und im schattigen Mühlkanal standen Häuser und Bäume klar in kühler Schwärze gespiegelt. Nur ich sel ber war anders geworden, und nur an mir lag es, daß zwi schen mir und diesem Bilde ein gespenstischer Schleier der Entfremdung hing. In diesem kleinen Bezirk von Mauern, Fluß und Wald lag mein Leben nicht mehr sicher und zufrie den eingeschlossen, es hing wohl noch mit starken Fäden an diese Stätten geknüpft, war aber nicht mehr eingewachsen und um-friedet, sondern schlug überall mit Wogen der Sehnsucht über die engen Grenzen ins Weite. Indem ich mit einer eigentümlichen Trauer hinuntersah, stiegen alle meine gehei men Lebenshoff nungen feierlich in meinem Gemüte auf, Worte meines Vaters und Worte der ver-226
ehrten Dichter zu sammen mit meinen eigenen heimlichen Gelübden, und es schien mir eine ernsthafte, doch köstliche Sache, ein Mann zu werden und mein eigenes Schicksal bewußt in Händen zu halten. Und alsbald fi el dieser Gedanke wie ein Licht in die Zweifel, die mich wegen der Angelegenheit mit Berta Vögtlin bedrängten.
Mochte sie hübsch sein und mich gern haben; es war nicht meine Sache, das Glück so fertig und unerworben von Mädchenhänden schenken zu lassen.
Es war nicht mehr lange bis Mittag. Die Lust am Klettern war mir verfl ogen, nachdenklich stieg ich den Fuß-
weg nach der Stadt hinab, unter der kleinen Eisenbahnbrücke durch, wo ich in früheren Jahren jeden Sommer in den dichten Brennesseln die dunklen pelzigen Raupen der Pfauenaugen erbeutet hatte, und an der Friedhofs-mauer vorbei, vor deren Pforte ein moosiger Nußbaum dichten Schatten streute. Das Tor stand off en, und ich hörte von drinnen den Brunnen plätschern. Gleich nebenan lag der Spiel- und Festplatz der Stadt, wo beim Maienfest und am Sedanstag gegessen und getrunken, geredet und getanzt wurde. Jetzt lag er still und vergessen im Schatten der uralten, mächtigen Kastanien, mit grellen Sonnenfl ecken auf dem rötlichen Sande.
Hier unten im Tal, auf der sonnigen Straße den Fluß ent
lang, brannte eine erbarmungslose Mittagshitze, hier stan den, auf der Flußseite den grell bestrahlten Häusern gegen über, die spärlichen Eschen und Ahorne dünnlaubig und schon spätsommerlich angegilbt. Wie 227
es meine Gewohnheit war, ging ich auf der Wasserseite und schaute nach den Fi schen
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