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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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auszubreiten.

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    Doch vermochte ich nichts Neues zu entdecken. Ich sah nur die merkwürdige Verarmung, die mich von allen Seiten bedrohte, das unheimliche Erblassen und Hin-welken er probter Freuden und liebgewordener Gedanken. Für das, was ich widerwillig hatte hingeben müssen, für die ganze ver lorene Knabenseligkeit war mein Beruf mir kein Ersatz, ich liebte ihn wenig und bin ihm auch nicht lange treu geblieben. Er war für mich nichts als ein Weg in die Welt hinaus, wo ohne Zweifel irgendwo neue Befriedigungen zu fi nden wä ren. Welcher Art konnten diese sein?
    Man konnte die Welt sehen und Geld verdienen, man brauchte Vater und Mutter nimmer zu fragen, ehe man etwas tat und unternahm, man konnte sonntags Kegel schieben und Bier trinken. Dieses alles aber, sah ich wohl, waren nur Nebensachen und keineswegs der Sinn des neuen Lebens, das mich erwartete. Der eigentliche Sinn lag anderswo, tiefer, schöner, geheimnisvoller, und er hing, so fühlte ich, mit den Mädchen und mit der Liebe zusammen. Da mußte eine tiefe Lust und Befriedigung verborgen sein, sonst wäre das Opfer der Kna-benfreuden ohne Sinn gewesen.
    Von der Liebe wußte ich wohl, ich hatte manches Liebes
    paar gesehen und wunderbar berauschende
    Liebesdichtun gen gelesen. Ich hatte mich auch selber schon mehrere Male verliebt und in Träumen etwas von der Süßigkeit empfun den, um die ein Mann sein Leben einsetzt und die der Sinn seines Tuns und Strebens ist.

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    Ich hatte Schulkameraden, die schon jetzt mit Mädchen gingen, und ich hatte in der Werk statt Kollegen, die von den sonntäglichen Tanzböden und von nächtlich erstiegenen Kammerfenstern ohne Scheu zu erzählen wußten. Mir selbst indessen war die Liebe noch ein verschlossener Garten, vor dessen Pforte ich in schüchterner Sehnsucht wartete.
    Erst in der letzten Woche, kurz vor meinem Unfall mit dem Meißel, war der erste klare Ruf an mich ergangen, und seitdem war ich in diesem unruhig nachdenk-lichen Zustande eines Abschiednehmenden, seitdem war mein bisheriges Le ben mir zur Vergangenheit und war der Sinn der Zukunft mir deutlich geworden. Unser zweiter Lehrbube hatte mich eines Abends beiseite genommen und mir auf dem Heim wege berichtet, er wisse mir eine schöne Liebste, sie habe noch keinen Schatz gehabt und wolle keinen andern als mich, und sie habe einen seidenen Geldbeutel gestrickt, den wolle sie mir schenken. Ihren Namen wollte er nicht sagen, ich werde ihn schon selber erraten können. Als ich dann drängte und fragte und schließlich geringschätzig tat, blieb er stehen – wir waren eben auf dem Mühlensteg überm Was ser – und sagte leise: »Sie geht gerade hinter uns.«
    Verlegen drehte ich mich um, halb hoff end und halb fürchtend, es sei doch alles nur ein dummer Scherz.
    Da kam hinter uns die Brückenstufen herauf ein junges Mädchen aus der Baum wollspinnerei gegangen, die Berta Vögtlin, die ich vom Kon fi rmandenunterricht her 223
    noch kannte. Sie blieb stehen, sah mich an und lächelte und wurde langsam rot, bis ihr ganzes Gesicht in Flammen stand. Ich lief schnell weiter und nach Hause.
    Seither hatte sie mich zweimal aufgesucht, einmal in der Spinnerei, wo wir Arbeit hatten, und einmal abends beim Heimgehen, doch hatte sie nur Grüß Gott gesagt und dann:
    »Auch schon Feierabend?« Das bedeutet, daß man
    ein Ge spräch anzuknüpfen willens ist; ich hatte aber nur genickt und ja gesagt und war verlegen fortgegangen.
    An dieser Geschichte hingen nun meine Gedan-
    ken fest und fanden sich nicht zurecht. Ein hübsches Mädchen lieb zuhaben, davon hatte ich schon oft mit tiefem Verlangen ge träumt. Da war nun eine, hübsch und blond und etwas grö ßer als ich, die wollte von mir geküßt sein und in meinen Ar men ruhen. Sie war groß und kräftig gewachsen, sie war weiß und rot und hübsch von Gesicht, an ihrem Nacken spielte schattiges Haar-gekräusel, und ihr Blick war voll Erwartung und Liebe.
    Aber ich hatte nie an sie gedacht, ich war nie in sie verliebt gewesen, ich war ihr nie in zärtlichen Träumen nach gegangen und hatte nie mit Zittern ihren Namen in mein Kis sen gefl üstert. Ich durfte sie, wenn ich wollte, liebkosen und zu eigen haben, aber ich konnte sie nicht verehren und nicht vor ihr knien und anbeten. Was sollte daraus werden? Was sollte ich tun?
    Unmutig stand ich von meinem Graslager auf. Ach, es war eine üble Zeit. Wollte Gott, mein Fabrikjahr wäre 224
    schon morgen um und ich könnte wegreisen, weit von hier, und neu anfangen

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