Meisterin der Runen
aufs Pferd, ritt in die Nacht. Langsam beruhigte sich sein Atem, sein Herzschlag, das halb schmerzhafte, halb lustvolle Pochen in seiner Männlichkeit.
Am Ende hatte er nicht von ihr bekommen, was er wollte. Er hatte sie nicht wirklich besiegt. Er hatte ihren Stolz nicht gebrochen und ihren Namen nicht erfahren. Aber in jedem Fall war sie, die lästige Zeugin seiner Taten, endlich tot, und mit ihrem schlaffen Leib würde die Macht verfaulen, die sie über ihn besessen hatte.
Als er zudrückte, verschwamm sein Gesicht vor ihren Augen. Gänzlich schwarz wie erwartet wurde es nicht. Erinnerungen stiegen in ihr hoch, keine entsetzlichen, vielmehr tröstliche, und Gunnora erkannte, dass der Tod kein finsterer Geselle war, nur weil er das Leben schluckte wie die Nacht den Tag. Ein grelles Licht warf er vielmehr auf die Vergangenheit des Sterbenden und all seine Taten, doch für den, der sich nicht tobend und verzweifelt gegen ihn auflehnte, war dieses Licht nicht versengend wie die Mittagssonne, sondern warm und heimelig wie das des Herdfeuers.
Und der Tod war auch kein schweigsamer Geselle, nur weil auf ihn die ewige Stille folgte. Auf die vielen klagenden Fragen des Sterbenden: Was habe ich versäumt zu tun? Was habe ich falsch gemacht? Was hinterlasse ich unvollendet?, antwortete er mit einem freundlichen Lied. Lass dich fallen, sang er, hadere nicht, müh dich nicht länger ab. Sterben ist nicht tun, sondern geschehen lassen.
Und der Tod war auch kein kalter Geselle, nur weil er Herz und Blut erstarren ließ. Wenn du mich umarmst, flüsterte er, breite ich meine Flügel aus, wärme dich und fliege mit dir bis zum äußersten Ende des Morgenrots.
Gunnora war bereit zu sterben wie nie. Und deshalb war sie auch bereit zu leben wie nie.
Komm, Tod, sagte sie, und der Tod streichelte sie, ließ die Augen blicklos werden, die Glieder erschlaffen, die Haut erkalten, doch er war nicht gekommen, um sie zu holen, sondern mit Agnarr ein Spiel zu treiben.
Als dieser sie losließ, schnappte sie nicht gierig nach Luft, sondern blieb starr liegen, und er ließ sich von ihr und dem Tod täuschen, erhob sich ächzend, trat ein letztes Mal nach ihr und ließ sie liegen. Er sah sich kein einziges Mal mehr um. Er verwischte die Runen, band seine langen Hosen zu, strich die Tunika, die er darüber trug, glatt, legte seinen Umhang an und verließ die Hütte.
Gunnora atmete erst leise, dann immer gieriger. Ihre Glieder kribbelten, als sie sich erhob, ihr Kopf dröhnte, das Blut, das aus der Nase rann, stockte. Nie hatte sie sich so elend gefühlt, aber sie lebte. Nie war ihr so kalt gewesen, aber noch rann wärmendes Blut durch ihre Adern. Sie hatte Agnarr tatsächlich überlistet, war allein in der Hütte, und diese war unversperrt.
Es gab keine Stelle ihres Körpers, die nicht wehtat, doch das war gut. Solcherart musste sie nicht auf den pochenden Schmerz zwischen den Beinen achten – daran gemahnend, dass sie nicht nur verletzt war, sondern beschmutzt, entehrt. Es ist nicht so wichtig, dachte sie. Auch ehrlose Menschen leben.
Vorsichtig lugte sie nach draußen, wo sie Männer um ein Lagerfeuer sitzen sah, jedoch weit und breit keinen Agnarr. Die Männer achteten nicht darauf, wer durch die Dunkelheit schlich. Neben der Hütte befanden sich weitere Häuser, und um die Häuser war ein Palisadenzaun errichtet, niedrig genug, um darüberzuklettern. Würden es auch die beiden kleinen Schwestern schaffen? Und wo waren diese überhaupt?
Ihre Augen gewöhnten sich an die Schwärze der Nacht. Inmitten der Männer nahm sie eine kleinere, zierlichere Gestalt wahr, jenes Mädchen, das ihr Essen gebracht hatte, nun auch die Männer versorgte und hinterher zurück zu einem Langhaus huschte. Gunnora schlich ihr nach. Gras und Erde und Steine gruben sich in ihre Fußsohlen, aber sie spürte es kaum, spürte nichts Kaltes, nichts Hartes, nichts Spitzes, nichts Weiches.
Bei jedem Schritt überlegte sie, wen sie um Hilfe bitten könnte, die Götter, die toten Eltern, die Wesen des Waldes – Feen, Zwerge und Elfen. Doch als sie sich entschied, niemandem als sich selbst zu vertrauen, hatte sie das Langhaus bereits erreicht. Die Tür stand offen, das Mädchen holte offenbar Nachschub, und als sie das Haus wieder verließ, schlich Gunnora hinein. Sie wagte nicht, den Namen der Schwestern zu rufen, sondern tastete sich voran. Sie stieß gegen Bänke, Tische und eine Truhe. Noch mehr blaue Flecken würde sie bekommen, aber das scherte sie nicht.
Die
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