Meisterin der Runen
voller Ehrfurcht. Sie trat näher, aber wich der Rune am Boden aus. Offenbar kannte sie ihre Bedeutung.
»Du willst ihn töten?«, fragte sie eher neugierig als vorwurfsvoll.
»Er hat meine Eltern getötet«, gab Gunnora zurück.
Aegla nickte. »Ich verstehe.«
Schweigend vergingen die nächsten Augenblicke. »Mehr sagst du dazu nicht?«, fragte Gunnora schließlich verwirrt.
»Wenn er sich töten lässt, hat er’s verdient.«
Der Span glomm immer noch, doch er beleuchtete nicht länger Aeglas Gesicht. Ihre Augen glichen schwarzen Löchern.
»Als ich klein war«, erzählte sie, »hat ein Stier meinen Vater aufgespießt. Er brauchte drei Tage, um zu sterben. Meine Mutter schickte zwei Sklaven fort, um den Stier einzufangen. Später hat sie ihn eigenhändig geschlachtet und das Fleisch gebraten. Die ganze Sippe hat davon gegessen, und wir sind alle satt geworden. Wenn er schon tot ist, hat meine Mutter gesagt, soll es wenigstens nicht vergebens gewesen sein.« Sie hielt eine Weile inne, dann fuhr sie zu reden fort. »Menschen sterben, daran lässt sich nichts ändern. Aber ein guter Tod soll Ruhm einbringen oder zumindest irgendwelchen Nutzen haben. Agnarr hat meinen Mann getötet, seinen eigenen Vater, und damit sich das lohnt, muss er Herrscher der Normandie werden. Falls er dagegen so dumm ist, sich von dir töten zu lassen, dann soll’s für dich nicht vergebens gewesen sein. Geh also bedächtig vor und lass dich hinterher nicht von seinen Männern abschlachten.«
Gunnora konnte nicht fassen, was die Alte faselte.
»Du denkst, ich bin stärker als er?«, entfuhr es ihr fassungslos.
Aegla kicherte. »Nein, aber wenn du’s wärest oder zumindest mehr List bewiesest, würde ich ihm keine Träne nachweisen. Von wem hast du die Runen zu zeichnen gelernt?«
Gunnora zeigte nicht, wie betroffen die Alte sie machte. Ihre erste Regung war zu schweigen, um sie solcherart loszuwerden. Solange sie allerdings hier war, blieb sie von Agnarrs Gegenwart verschont und hatte zugleich die Möglichkeit, mehr über ihn zu erfahren.
»Von meiner Mutter«, antwortete sie. »Sie war eine weise Frau.«
»Hm«, machte Aegla und verzog abschätzig ihren Mund. »Frauen sind immer weiser als die Männer. Und schwächer. Sie können nicht einfach zurückschlagen, sie müssen mit anderen Mitteln kämpfen als mit Fäusten und Schwertern. Sie können nicht auf Kraft setzen, nur auf Geschmeidigkeit und Biegsamkeit.« Sie seufzte. »Das kann durchaus von Vorteil sein, weißt du. Die Männer erlegen das Wild, aber wir weiden es aus und lesen in seinen Gedärmen die Zukunft. Die Männer hinterlassen mit ihren schweren Schritten Spuren im Dreck, während wir uns auf die Zehenspitzen stellen, um Äpfel vom Baum zu pflücken. Diese Arbeit wäre ihnen viel zu minder, doch sie versäumen zu lernen, was wir von Kindesbeinen an wissen: Selbst verdorbenes Obst schmeckt süß. Selbst wenn wir hilflos unter ihnen liegen und kein Glied mehr regen können, bleiben unsere Gedanken beweglich. Irgendwie können wir uns selbst unsere größte Schwäche zunutze machen.«
»Was … was soll ich tun?«, fragte Gunnora atemlos.
Aegla gab keine Antwort, sondern schien in Gedanken versunken. »Männer können schneller rennen, schneller reiten, schneller töten, doch manchmal führt nicht dieses schnaufende, verschwitzte, rastlose Tun zum Ziel, sondern das Warten.«
»Aber worauf soll ich warten, wenn nicht auf meine Unterwerfung?«
»Komm der Unterwerfung zuvor, indem du ihn verführst oder verhext. Letztlich ist beides dasselbe.«
Gunnora zuckte die Schultern. »Und damit soll ich ihn besiegen?«, fragte sie leise.
Zunächst war sie sich sicher, dass die Alte ihr eine Antwort schuldig bleiben würde, doch plötzlich grinste diese heimtückisch und rückte mit ihrem Gesicht ganz dicht an ihres heran.
»Einst hat er eine Frau begehrt und nicht bekommen. Berit. Wenn er dich kriegt, wird er den Triumph ganz und gar auskosten wollen, und das bedeutet, er will dich weinen sehen. Solange du nicht weinst, bleibst du am Leben, und das ist doch ein Sieg.«
Gunnora fühlte den warmen Atem der Alten. Eines der weißen, feinen Haare kitzelte ihre Wange. Es war unangenehmer als ein Faustschlag.
»Hast du je geweint?«, fragte sie.
Aeglas grinste noch immer. »Niemals. Warum, glaubst du, bin ich so alt geworden?«
Wieder folgte Schweigen. Durch die Ritzen floss nur mehr Finsternis. Nicht mehr lange, dann würde der Span verglimmen.
»Du rätst mir also, nicht
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