Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
Mädchen lagen zusammengekrümmt auf der Schlafstatt, und als sie sich niederbeugte, um sie zu wecken, richtete sich eine Gestalt auf. Wie befürchtet war Aegla hier – und wach.
    »Du lebst also noch?«, fragte sie.
    Es war zu finster, um in ihrer Miene zu lesen und zu erkennen, ob sie enttäuscht, befriedigt oder belustigt war.
    Gunnora nickte. Sie weckte die Mädchen, die sich gleich an sie klammerten. Aegla rührte sich nicht. Sie wusste, mit flehentlichen Bitten konnte sie die Alte nicht milde stimmen, doch ehe ihr etwas einfiel, was sie zu ihr sagen könnte, erklärte Aegla höhnisch: »Ich halte dich bestimmt nicht auf.«
    Als Gunnora mit den Schwestern das Langhaus verließ, von der Siedlung fortschlich und in Richtung Wald hastete, schwarz und undurchdringlich dieser, hallten Aeglas Worte in ihr nach.
    Falls er dagegen so dumm ist, sich von dir töten zu lassen, dann soll’s für dich nicht vergebens gewesen sein.
    Sie durfte sich jetzt keine Schwäche erlauben! Die Flucht musste glücken!
    Gunnora erreichte den Waldrand und hielt kurz inne. Sie fühlte sich nicht sicherer, fühlte sich immer noch besudelt, fühlte sich vor allem aber tief beschämt. Ich sollte mich auch schuldig fühlen, dachte sie, ich hätte nie aus Rouen fliehen dürfen.
    Sie verdrängte den Gedanken und suchte neue Kraft aus den anderen Worten zu ziehen, die Aegla zu ihr gesprochen hatte. Der Schmerz, die Schande, die Ohnmacht – all das durfte nicht vergebens gewesen sein.
    Ich bin eine Frau, die geschändet wurde, aber nicht nur. Ich bin eine Frau, deren Eltern ermordet wurden und bislang ungerächt blieben, aber nicht nur. Vor allem bin ich eine Frau des Waldes. Ich sterbe nicht – nicht inmitten von Bäumen.
    Die rabenschwarze Nacht verschluckte sie, spuckte sie wieder aus, erbleichte. Es ging voran. Einmal vernahm sie hinter den Bäumen das Rauschen des Meeres. Sie ging so lange, bis sie es nicht mehr hörte. Das Meer lag im Norden, Rouen im Süden, im Norden, das stand jetzt endgültig fest, gab es keine Zukunft mehr für sie. Ob es eine in Rouen gab, daran wollte und konnte sie nicht denken, noch nicht.
    »Wie lange denn noch?«, klagte Wevia. Kälte und Hunger setzten ihr sichtlich zu.
    »Ihr müsst tapfer sein, tapfer wie Alfhilde.«
    »Wer ist denn das?«
    »Die Anführerin einer Wikingertruppe«, antwortete Gunnora. »Eine Prinzessin. Sie war stark und mutig wie ein Mann, sie liebte Björn, das Kind einer Fee, und Björn war unverwundbar bis auf eine Stelle in der Brust.«
    »Wo genau ist die Stelle?«
    Gunnora deutete auf Wevias Brust. »Da ist sie! Schlag die Hände davor und schütze sie.«
    Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, und vergaß auf diese Weise die schmerzenden Füße. »Erzähl mehr von Alfhilde!«, bat es.
    Gunnora wusste nicht mehr. Der Vater hatte einst am Herdfeuer Geschichten dieser Kriegerin ausgeschmückt, doch in der Kälte lahmte ihr Geist. »Sie kam ins Frankenland, um es zu erobern, besetzte mit ihren Kriegern das Land, vertrieb die Christen …«
    Sie stockte. Ob Aegla ihrem Sohn jemals diese Geschichte erzählt hatte? Ob er mittlerweile entdeckt hatte, dass sie noch lebte, und sie verfolgte?
    Sie zog die Mädchen unbarmherzig weiter und gönnte ihnen keine Rast. Nur einmal blieben sie vor einem sumpfigen Tümpel stehen.
    »Ihr müsst trinken.«
    Duvelina ekelte sich vor dem schlickigen Wasser, Wevia nicht minder.
    »Du musst dir vorstellen, dass du Audumla bist«, sagte Gunnora. »Audumla war eine Kuh und eines der wenigen Lebewesen, die zu Beginn der Welt zum Leben erwachten. Sie leckte das ewige Eis so lange, bis Buri hervorkam, der erste Mensch. Die Götter wiederum sind unter der Achsel von Ymir erstanden, einem Riesen, der aus Feuer und Eis hervorgegangen ist, und den sie töteten, um daraus die Welt zu erschaffen.«
    Was, dachte Gunnora, ist wohl mit Audumla passiert, nachdem die Welt der Menschen und Götter erstanden ist … Ob sie weiterhin am Eis leckt, ob sie auch mich ableckt, damit ich wieder etwas fühlen kann? Ekel, Entsetzen, Schmerz … Nein, dachte sie, nein, ich darf nichts fühlen. Und wenn ich der Kuh den Hals aufschlitzen müsste, es zu verhindern …
    Sie streckte die Zunge heraus, leckte vom Wasser wie ein Tier und freute sich, als Wevia und Duvelina lachten. Sie hatten es also noch nicht verlernt.
    Bald ging es weiter. Der Wald wurde lichter, die Sonnenstrahlen wurden wärmer, und mit der Kälte verlor die Einsamkeit an Macht. In weiter Ferne erblickte Gunnora Menschen,

Weitere Kostenlose Bücher