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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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noch winzig, kaum größer als Käfer, aber als sie ihnen im Laufschritt folgten, wuchsen sie und wurden zu zwei Händlern, die einen zweirädrigen Wagen zogen. Säcke lagen darauf, offenbar randvoll mit Salz aus dem Meer, und zwei Fässer mit Wein.
    »Wohin geht ihr?«, fragte sie atemlos, als sie sie erreichte.
    Die Männer musterten sie. »Zum nächsten Dorf.«
    »Nehmt ihr uns mit?«
    Die Blicke blieben argwöhnisch. Kein Wunder, so schmutzig und blutbesudelt, wie sie war. Gunnora zog das Messer, mit dem sie Richard hätte töten sollen. Sie hatte vergessen, dass es noch an ihrem Gürtel hing, sie folglich eine Waffe besessen hätte, mit der sie sich gegen Agnarr hätte verteidigen können.
    »Das schenke ich euch, wenn wir euch begleiten dürfen und von euch zu essen bekommen.«
    Das Misstrauen schwand nicht, dennoch nickten die Männer. Sie bekamen getrocknetes Pferdefleisch, das zäh und fade schmeckte, aber den Magen füllte, und einen Schlauch mit herbem Wein. Davon gestärkt erreichten sie bald ein Dorf. Die beiden Männer tauschten ihre Waren und zogen mit neuen in die nächste Siedlung weiter, und Gunnora folgte ihnen mit den Schwestern auch dorthin. Sie wusste nicht, wie die beiden Männer hießen. Sie wusste auch nicht, wie wertvoll das Messer gewesen war. In jedem Fall waren die beiden bereit, sie weiter mitzunehmen. Nachdem sie sich gewaschen hatte, waren sie überdies nicht länger misstrauisch, sondern sichtlich froh, auf ihrer Reise nicht allein sein zu müssen.
    Nach ein paar Tagen verrieten sie, dass sie Orn und Njall hießen. Als sie jung gewesen waren, hatten sie noch Handel mit Speckstein und Eisen, Glas und Schmuck betrieben. Sie waren weit über die Grenzen hinausgekommen – nach Birka, Haithabu, Kaupang.
    Gunnora kannte diese Orte, ihr Vater war oft dort gewesen und hatte mit Pferden gehandelt, mit jenen Tieren, die sein ganzer Stolz gewesen waren …
    Sie fragte nicht, ob sie jemals nach Rouen kommen würden und wann das wäre. Solange sie das Ziel von Orn und Njall nicht kannte, blieb das Land, durch das sie Tage, ja viele Wochen wanderten, ein Niemandsland und vor allem sie selbst ein Niemand. Eine Frau ohne Gefühle, eine Frau ohne Angst, eine Frau ohne Vergangenheit.
    Einmal ging ihr doch ein verräterischer Gedanke durch den Kopf: Wenn wir zufällig an Samos Hütte vorbeikämen, könnte ich mit den Mädchen bei Seinfreda bleiben. Was kümmern mich schon seine Einfalt und Hildes Bosheit, wenn ich nur bei ihr sein könnte. Und auch ihr Lächeln würde mich nicht stören, obwohl es verlogen ist, denn Lügen kann ich gebrauchen. Die Lüge, dass alles nicht so schlimm ist. Die Lüge, dass alles wieder gut wird.
    Nie hatte die älteste Schwester sie so sehr vermisst, und die Sehnsucht nach ihr schmerzte mehr als alle Wunden, die Agnarr geschlagen hatte, doch anstatt ihr nachzugeben, bat sie Njall um ein Stück Stoff und nähte daraus ein neues Kleid. Das alte, mit dem sie ihr Blut und Agnarrs Samen abgewaschen hatte, ließ sie am Wegesrand liegen. Der Wind zerrte daran, als sie sich umdrehte, und schwarze Vögel stießen darauf herab, weil sie es für ein Beutetier hielten.
    Ihr werdet hungrig bleiben, dachte Gunnora schadenfroh, keinen Bissen bekommt ihr von mir ab … ich brauche keine Lügen, um euch zu vertreiben. Meine Entschlossenheit allein reicht.
    Auch wenn sie es gewollt hätte, hätte sie nicht bei Seinfreda Unterschlupf finden können, denn in der Zeit, in der sie mit Orn und Njall unterwegs waren, mieden sie aus Angst vor Räubern den Wald. Nur einmal nahmen sie eine Straße, die an dichten Bäumen vorbeiführte, und Njall nutzte die Gelegenheit, Tiere zu jagen, sodass sie sich eine Weile nicht mit Trockenfleisch begnügen mussten.
    Er nutzte dazu ein Wurfholz – einen gebogenen Ast, der so lange bearbeitet worden war, dass er an den Rändern scharf und an den Enden spitz war-, und das so geschickt, dass das Holz, wenn es blitzschnell durch die Luft wirbelte, nicht nur das Kleintier zu Fall brachte, sondern die Richtung wechselte, zu Njall zurücksegelte und von diesem wieder aufgefangen wurde.
    Gunnora bewunderte seine Geschicklichkeit und dachte zugleich erleichtert: Nicht immer bedeutet es Scheitern, wenn etwas sich im Kreis dreht und zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Und das Blut, das an dem Wurfholz klebt, ist ein Zeichen, dass wir heute satt werden, nicht, dass meine Wunden immer noch nässen.
    Ich werde nicht mehr bluten, ich werde nicht verhungern, ich werde nicht

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