Meisterin der Runen
zurückzugewinnen …
Sie war sich nicht sicher, ob sie es konnte, und die Männer, mit denen sie ritt, noch weniger. Es war für Mathilda schwer gewesen, sie umzustimmen, und selbst wenn sie ihrem Ansinnen letztlich nachgegeben hatte – die Zweifel waren geblieben.
Richard sei nicht von Natur aus nachtragend und misstrauisch, habe aber zu oft Verrat erlebt, um sich einen versöhnlichen Blick auf die Welt zu bewahren, hatte Arvid zu bedenken gegeben. Raoul von Ivry hingegen, Richards Bruder, war ein zu leichtfertiger Mann, als dass er sich von dunklen Gefühlen gefangen nehmen ließ – ob nun den eigenen, denen seines Bruders oder Gunnoras –, aber in ihm brannte Unrast. Er wollte so schnell wie möglich zu Richard stoßen, und mit einer schwangeren Frau unterwegs zu sein verzögerte das Fortkommen in seinen Augen unnötig. Es stimmte ihn mürrisch.
»Du kommst nur mit, wenn du nicht im Wagen reist, sondern auf dem Pferd. Kannst du überhaupt reiten?«, hatte er beim Aufbruch gefragt.
»Mein Vater war Pferdehändler. Ich bin auf dem Pferderücken aufgewachsen.«
Raouls Laune hatte sich gebessert, sobald sie bewiesen hatte, dass ihre Worte keine dreiste Übertreibung waren. Immer noch trieb er zu mehr Eile, aber in seinem Blick stand auch Anerkennung.
Arvids Vorbehalte hingegen blieben: »Wenn wir nur wüssten, was uns dort erwartet.«
Dort – das war ein Ort an der Seine, und diese wiederum ein Fluss, den die meisten Dänen entlanggesegelt waren, als sie ins Land gekommen waren. Immer störrischer, selbstbewusster und gewalttätiger zeigten sie sich, und Richard wusste: Dass sie in diesen Tagen zum Thing zusammentrafen und er dort zu ihnen sprechen würde, war die vielleicht letzte Gelegenheit, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zum Gehorsam aufzurufen.
»Es ist ein Wendepunkt seiner Regentschaft«, hatte Mathilda gesagt.
Und für Gunnora würde es ein Wendepunkt ihres Lebens sein.
Während sie ritt, musste sie an Aeglas Worte denken, wonach sich jedes Opfer, jeder Schmerz, jedes Scheitern zu lohnen hatte. Damals hatte sie daraus Kraft gezogen, um Agnarr zu überlisten, jetzt schien ihr dieser Ratschlag nicht länger gültig.
Nein, dachte sie, es lohnt sich nicht immer. Manchmal muss man feststellen, dass etwas vergebens geschehen ist. Manchmal erweisen sich breite Straßen als Irrweg, und nur ein Narr schreitet darauf hinfort, anstatt eilig umzukehren. Manchmal bleiben Bluttaten ungerächt, manchmal muss man sich selbst verraten, manchmal gehen Starke zugrunde und siegen Schwache, und manchmal muss der Starke Schwäche zeigen.
Die Sonne sank, als sie ankamen. Nicht länger kräftig grün stand der Wald, sondern in einem fahlen Braun. Dunst zog vom Fluss hoch, schlug graue Schneisen in das Gebüsch. Obgleich der Tag sich neigte, herrschte so große Unruhe, als wären die Lebensgeister eben erst erwacht. Erst waren nur einzelne laute Stimmen zu hören, später stimmten alle in das Geschrei ein. Ein Großteil der Männer, die sich hier versammelt hatten, waren einfache, unbewaffnete Bauern mit knielangen Hemden und groben Filzschuhen, einige trugen aber auch glänzende Rüstungen und Waffen.
Vielleicht ist Agnarr darunter, dachte Gunnora erschaudernd, gewiss lässt er sich die Gelegenheit nicht entgehen, gegen Richard zu hetzen … Der war mit einem stattlichen Heer gekommen, das bessere Waffen mit sich führte, aber zahlenmäßig waren die Heiden überlegen, nicht zuletzt, weil Frauen und Kinder darunter waren.
»Was ist passiert?«, fragte sie Arvid.
Die Schreie wurden lauter und das Gedränge so dicht, dass sie ihre Pferde nicht zu Richards Zelt treiben konnten, sondern vorzeitig absteigen mussten.
Arvid zuckte müde mit den Schultern. Er war es sichtlich leid, einmal mehr um Richards Herrschaft zu bangen. »Ich habe keine Ahnung …«
In Raoul indessen wuchs die Ungeduld. Mit Faustschlägen bahnte er sich einen Weg zu Richard und winkte Gunnora, ihm zu folgen. Als sie den Grafen vor seinem Zelt erblickten, hielt er inne.
»Besser, er sieht dich nicht gleich.«
Gunnora duckte sich unwillkürlich, obwohl sie sich das hätte sparen können: Richard war ohnehin abgelenkt. Etliche Bischöfe bildeten einen Kreis um ihn und trugen lautstark ihre Beschwerden vor. Beim Versuch, das widerspenstige Volk zu bekehren, so ging aus ihren Wortfetzen hervor, hatte dieses sie mit Tierknochen beworfen.
Gunnora sah Ärger in den Gesichtern der Gottesmänner und noch mehr Unbehagen und Angst – Gefühle, die sie
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