Meisterin der Runen
Blick, liebevollem Lächeln, starken Armen, die sie umfassten, trösteten, schützten.
»Ich habe doch nicht den Regenbogen getötet, nur all die Geier und Ratten, Schlangen und Würmer.«
Tatsächlich, nichts war mehr zu sehen … von dem grässlichen Getier so wenig wie von den Leichnamen. Das Land, das sich vor ihr erstreckte, war nackt, der Himmel darüber von kaltem Blau.
»Wo ist der Regenbogen?«, fragte sie.
Richard streichelte ihr Gesicht, ihren Nacken, ihre Schultern, ihren Leib.
»Er ist verschwunden«, sagte er, »aber hab keine Angst, du wirst einen neuen gebären.«
Gunnora glaubte, seine liebevollen Berührungen noch zu fühlen, als sie erwachte. Sie seufzte wohlig, kuschelte sich in ihr Kissen, genoss Richards Streicheln und die sanften Tritte des Kindes. Aber als sie die Augen öffnete, sah sie, dass sie allein war, Richard fern … und gewiss immer noch voller Hass auf sie.
Sie weinte heiße Tränen, nicht sicher, was sie mehr vermisste, den Anblick des Regenbogens … oder seine Umarmung.
Der spätsommerliche Tag starb, sein letztes abendrotes Seufzen klang wie der raue, traurige Ton der Knochenflöte, das Licht, das durch dunkle Wolkentürme brach, war weich und süß wie Honig. Der Chor der Vögel, die in grenzenloser Höhe vom noch bleichen Mond zu kosten schienen, stimmten ins Abschiedslied mit ein, das der Wind der untergehenden Sonne sang, das Rascheln der Blätter klang, als wären sie nicht verderblich und würden im Herbst rosten und fallen, sondern als hätte sie ein Goldschmied aus hauchdünn gepresstem Silber geformt.
Agnarrs Männer waren taub für jene zauberhafte Melodie und störten sie durch Schritte und Geschrei. Alles an ihnen war laut und schwer, nichts verhieß die tröstliche Gewissheit, wonach die Welt schön und das Licht, das sie mit letzter Kraft erleuchtete, warm war.
Schönheit ist schließlich vergänglich, dachte Agnarr, und wenn das Lied, mit dem man sie besingt, süßlich klingt, so letztlich nur, weil es von der Verwesung kündet, die am Ende von jedem Leben steht.
Berit war längst verrottet. Die schwarze Dänin würde dereinst, nachdem er sie geschlachtet hatte, gleichfalls zu Staub verfallen. Nur Macht und Ruhm wurden nicht von Würmern zerfressen. Auf Steintafeln wurde von ihnen geschrieben, und Stein hielt der Zeit stand.
Einer seiner Männer trat zu ihm. »Graf Richard wird morgen eintreffen. Seine Männer rufen die Dänen auf, sich an einer bestimmten Stelle des Flusses zu versammeln. Seine Priester wollen zu ihnen sprechen, danach er selbst.«
Agnarr unterdrückte ein spöttisches Lachen. Nicht länger hörte er das letzte Lied des schläfrigen Tages, sondern das Rauschen seines hitzigen Blutes.
»Seit Tagen, seit Wochen bläuen wir den Menschen hier ein, dass Richard ihresgleichen heimtückisch ermorden lässt und seine Versprechen an die Dänen so falsch wie die Verlockungen eines Weibes sind, dessen Atem faulig, dessen Brüste erschlafft und dessen Schoß vertrocknet ist!«, rief er triumphierend. »Wenn er zu den Menschen spricht, werden seine Worte auf taube Ohren stoßen, und werden sie doch gehört, so werden sie wie das Meckern einer Ziege oder das Miauen eines launigen Katers klingen, nicht aber die Massen mitreißen, ihm zu folgen, ihm zu dienen und von ihren Eroberungszügen abzulassen.«
Die Sonne stritt sich nicht länger mit dem Mond. Einer sterbenden Königin gleich glitt sie vom Himmel, würdevoll, aber kraftlos.
»Und du? Was wirst du morgen Abend tun?«
»Nichts«, erwiderte er genüsslich in Erwartung des kommenden Triumphs. »In der Ferne stehen, zuhören und lachen, wenn er geendet hat. Und sobald er unverrichteter Dinge wieder abgezogen ist, werde ich die Dänen unter meiner Führung vereinen.«
Als Gunnora nach Jeufosse ritt, betrachtete sie die Normandie nicht als Feindesland, wo sie ihre Eltern verloren und vor Agnarr geflohen war, sondern versuchte jenes Paradies zu sehen, das sich einst der Vater ausgemalt hatte, wenn sie hungernd und bibbernd um das Herdfeuer saßen. Die Sonne schien, die Natur war reich an Farben, das Kleine in ihrem Leib strampelte, und es war ein Leichtes, Walrams Worte heraufzubeschwören und an sie zu glauben. Das dunkle Rot der Wälder streichelte die Seele ebenso wie das Glitzern des Wassers von Seen oder Flüssen und die verblühenden Blumen am Rande der abgeernteten Felder.
Das ist dein Zuhause, dein Reich, sagte sie zu dem Kind unter ihrem Herzen, vorausgesetzt es gelingt mir, Richard
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