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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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alsbald hatte sie den Hof erreicht, in dessen Mitte Mathilda bereits stand.
    »Sieh doch nur!«
    Mathilda deutete nach oben. Gunnora hatte zuvor nicht gehört, wie heftig es geregnet hatte, erkannte es erst jetzt an den tiefen Pfützen, die im Hof standen und den nunmehr wieder blauen Himmel spiegelten, und sah überdies einen prächtigen Regenbogen.
    »Die Nordmänner glauben, dass der Regenbogen die Menschen- und die Götterwelt verbindet«, sagte Mathilda.
    Gunnora sog die frische, würzige Luft ein.
    »Und?«
    »Die Christen glauben etwas Ähnliches. Dass der Regenbogen ein Zeichen des Bundes ist, den Gott mit den Menschen geschlossen hat.«
    Ganz dicht stand sie nun neben ihr, und als die Ersten ihre Köpfe hoben, um Gunnora einmal mehr misstrauisch oder feindselig zu mustern, legte Mathilda ihr die Hand um die Schultern. Die Köpfe senkten sich.
    »Was willst du mir damit sagen?«, fragte Gunnora. »Der Regenbogen vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sich am Himmel ungleich öfter dunkle Wolken türmen, dass es blitzt und donnert und stürmt.« Obwohl sie die Berührung genoss und noch mehr die Ahnung, dass Mathilda ihr vergeben hatte, klang sie schroff.
    »Das wissen Christen wie Heiden«, erwiderte diese. »Und sie erfreuen sich dennoch der strahlenden Farben. So verschieden sind die Menschen nicht, ganz gleich, woher sie stammen und was sie glauben. Und so schwer sollte es für dich nicht sein, die Seiten zu wechseln.«
    Ehe Gunnora widersprechen konnte, glitt Mathildas Hand tiefer und streichelte behutsam über den gerundeten Bauch.
    »Bist du sicher, dass das Kind von Richard ist?«
    Gunnora zögerte kurz, aber nickte dann entschlossen. »Ich war schwanger, als ich Rouen verließ, nur wusste ich das damals noch nicht.«
    »Das ist gut, denn das Kind macht die Sache leichter.«
    »Was meinst du?«
    Mathilda gab sich weiter rätselhaft. »Du hast alles für deine Schwestern getan«, sagte sie nur. »Sicher bist du auch bereit, alles für dein Kind zu tun.«
    In dieser Nacht träumte Gunnora von ihren Eltern. Oft waren sie ihr in den letzten Jahren erschienen, doch niemals so eindrücklich: Manchmal waren es Erinnerungen an die Kindheit gewesen, die sie trösteten, manchmal die Bilder ihrer grausamen Ermordung, die sie heimsuchten. Heute sah sie Walram und Gunhild vor dem Regenbogen stehen, den Mathilda ihr gezeigt hatte. Einer Treppe gleich ragte er vor ihnen auf, steil, aber begehbar, zumindest für die Eltern: Kaum dass Gunnora sie erkannt hatte und wilde Freude darüber fühlte, mit ihnen vereint zu sein, lösten sie sich schon von ihrer Seite und begannen direkt in den Himmel zu steigen.
    »Vater! Mutter!«, schrie Gunnora.
    Sie hörten sie nicht. Und was bei ihnen so mühelos aussah, gelang ihr nicht nachzumachen. Sie war zu behäbig, den Regenbogen zu erklimmen, die Füße zu steif, sie in die luftigen Höhen zu tragen, ihre Augen auch nicht scharf genug, in weite Ferne zu blicken und den höchsten Punkt auszumachen. Von grauen Wolken war dieser vielmehr verborgen, und als die Eltern sich ihnen näherten, begannen sie, sich Nebelschwaden gleich aufzulösen.
    »Vater! Mutter!«, schrie Gunnora wieder. Die Eltern entschwanden, doch andere Menschen waren an ihrer Seite, die Schwestern, Samo, Mathilda … Richard.
    Er trug ein Schwert, so groß wie das von Agnarr, und als er es zog, schrie sie entsetzt auf. Anstatt es wider die Schwestern oder gar sie selbst zu richten, stellte er sich jedoch schützend vor sie und begann auf den Regenbogen einzuschlagen. In kleine Stücke zerfiel er, kaum größer als Funken. Sie regneten auf sie herab, und da erst erkannte Gunnora, was hinter dem Regenbogen stand, kein weites, fruchtbares Land, vom Regen genährt und erblühend, sondern ein Schlachtfeld, übersät von Geiern … oder nein, nicht von Geiern, vielmehr von gebückten schwarzen Menschen, die sich über Leichen beugten und ihnen die Augen auspickten. Nicht länger glichen sie Vögeln, sondern Ratten, Schlangen, Würmern. Und nicht länger taten sie sich an den Leichen gütlich, sondern an den Brocken, die vom Regenbogen geblieben waren und die nicht länger bunt, sondern grau schienen.
    Wo sind die Farben?, dachte Gunnora. Wo sind die Eltern? Wo ist die Brücke, die Himmel und Erde verbindet?
    Nichts davon war da, nur Richard sah sie, die Schwestern, Mathilda.
    »Warum hast du den Regenbogen getötet?«, fuhr sie ihn an.
    Er trat auf sie zu, ohne Schwert nunmehr, ohne Blutspritzer, mit strahlendem

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