Meisterin der Runen
eine von uns bist? Vielleicht ist alles gelogen! Es gibt auch Franken, die die dänische Sprache sprechen, und das allein macht sie nicht zu unseren Freunden.«
»Gewiss, doch es gibt andere Mittel als bloße Worte, um meine Herkunft zu bezeugen.« Sie wies erneut auf die weiche Erde, auf der die Menschen standen, beugte sich schließlich hinab und schrieb mit einem Zweiglein ihren Namen hinein. »Runen haben Macht, das wisst ihr alle, und dass ich meinen Namen in die Erde dieses Landes schreibe, bedeutet, dass ich sie endgültig zu meiner Heimat mache. Gunnora heiße ich. Ich schreibe die Rune Gebo, was Geschenk bedeutet. Die Rune Uruz, die den fallenden Regen symbolisiert. Die Rune Naudhiz, das heißt Not. Die Rune Othala, die Besitz und Wohlstand versinnbildlicht. Die Rune Raidho, was Reise bedeutet. Die Rune Ansuz, die für einen der Asen steht.«
Sie unterdrückte ein Ächzen, als sie sich wieder erhob. Ihr Leib war schwer, doch nicht so schwer, dass er sie beugte.
»Eben hast du doch gesagt, dass du dich taufen lassen möchtest. Wie kannst du das tun, wenn du die Runensprache beherrschst?«
»Wie ich schon sagte, die Runen sind machtvoll. Dieses Land weiß nun, wie ich heiße. Und ihr wisst es auch. Dennoch«, Gunnora trat vor und verwischte mit ihren Füßen die Runen, »dennoch gibt es etwas, das viel machtvoller ist, als die Runen es sind – das neue Leben nämlich, das ich in mir trage. Unser Schicksal verändert sich nicht durch Zauberei, sondern durch unseren Willen und durch Taten. Ich will Graf Richard eine gute Frau sein, die ihn stets daran gemahnt, woher wir kommen, aber die auch bereit ist, an seiner Seite neue Wege zu beschreiten. Ich verspreche ihm die Treue genauso wie seinem Gott, und nur wenn die Macht seines Gottes nicht ausreicht, aber nur dann, werde ich erneut Runen ritzen. In jedem Fall wird er euch allen ein starker, gerechter, guter Herrscher sein.«
»So, so«, die Stimme, die jetzt plötzlich erklang, war leiser als die anderen, klang aber giftig. »Ist es ein starker, gerechter und guter Herrscher, der Neuankömmlinge grausam niedermetzeln lässt, wie’s so oft an der Küste geschehen ist? Der sein Land nicht teilen will, sondern habgierig darauf hockt und mit dem Schwert bedroht, wer einen Fuß darauf setzt? Der von einer feigen Übermacht nicht nur Männer töten lässt, sondern Frauen, Kinder, Alte?«
Das Schweigen, das nun wieder folgte, war lähmender als das zuvor, und noch lähmender waren die Erinnerungen, die in Gunnora aufstiegen. Nicht wie selbstverständlich wollten ihr die Worte über die Lippen perlen, sie versteckten sich vielmehr hinter Bildern … von Walram, Gunhild, blutüberströmt. Und auch von Agnarr, wie er auf ihr gelegen, wie er sie bezwungen hatte, wie er ihr Gewalt angetan hatte. Doch gebrochen hatte er sie nicht. Und wie ihr Innerstes waren auch die Worte, die sie den Menschen schließlich entgegensetzen konnte, heil.
»Ich weiß, wovon du sprichst, denn ich war selbst dabei«, begann sie leise, um immer lauter und schärfer fortzufahren. »Ich wurde Zeugin des Verbrechens, das du benannt hast. Ich sah Menschen unter Schwertern fallen, die kein Unrecht begangen hatten, die nur von einem besseren Leben träumten. Menschen wie meine Eltern.« Sie atmete tief durch. »Wenn ich hier und heute neben Richard stehe, ist dies kein Zeichen, dass ich sie vergessen hätte oder verleugnen würde, es ist vielmehr ein Zeichen, dass ich noch immer an Rache glaube und daran, dass er sie für mich verüben wird. Denn es war nicht Richard, der die Ankömmlinge morden ließ, es war Agnarr, ein Däne, wie meine Eltern Dänen waren, der, um Macht in diesem Land zu erringen, das Blut seiner Landsleute vergossen und dann einem anderen die Schuld dafür gegeben hat. Ich bin die Zeugin seiner Taten, und er wollte mich deswegen töten, doch ich bin lebendiger als zuvor.«
Fremd waren die Gesichter, in die sie sah. Plötzlich aber vermeinte sie, einen der Zuhörer zu erkennen – Agnarr stand unter jenen, die ihre Rede belauschten, und er musste ohnmächtig ertragen, wie sie Worte gleich einer tödlichen Waffe benutzte. Sein Blut würde heute nicht fließen, aber seine ehrgeizigen Pläne waren zunichtegemacht, das wusste sie jäh.
»Agnarr!«, schrie sie, und nie hatte ihre Stimme so grollend tief geklungen, mehr einem Tier als einem Menschen gleichend, doch keinem waidwunden, sondern einem, das sein Revier verteidigt, seine Krallen ausfährt und seine scharfen Zähne
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