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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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man Säuglinge in Tücher einhüllte, die mit Bändern umwickelt wurden – nicht zu fest, aber auch nicht zu locker, sodass sie angenehm liegen und gut wachsen konnten, und sie erfuhr, dass man ein neugeborenes Kind mehrmals am Tag baden sollte, am besten vor dem Stillen, und es hinterher einölen, um es vor Abszessen zu bewahren.
    Der Blick des kleinen Richard war nicht immer neugierig in die Welt gerichtet. Meist schien er müde und verträumt, und nachdem er getrunken und ein wohliges Schmatzen hervorgebracht hatte, schlief es am liebsten an der Brust der Amme ein – einmal sogar auf Alrunas Arm.
    Das Kind war das Einzige, das nicht heuchelte, das nicht um ihren Schmerz wusste, und darum gelang es ihr, ihn in seiner Gegenwart kurz zu vergessen. Hinterher packte er sie umso heftiger.
    »Dir liegt der Umgang mit Kindern«, stellte Mathilda fest, »du solltest eigene bekommen.«
    Alruna schwieg.
    »Arfast … Arfast wäre ein rechter Mann für dich. In seinem Blick liegt so viel Sehnsucht, wenn er dich sieht.«
    Alruna schwieg immer noch. Sie dachte an den einstigen Schwur, als Richard gegen das Heer der Feinde gekämpft hatte. Auf alles war sie bereit gewesen zu verzichten, auf Glück und Liebe, einen Ehemann und eigenen Nachwuchs, wenn er nur heil zurückkäme.
    Nun, er war zurückgekommen, er erfreute sich an Gunnora und an seinem Kind, und er ahnte nicht, wem er das alles zu verdanken hatte.
    Die Nächte wurden kürzer, aber die Winde waren noch kalt, und der Himmel blieb grau. Der Winter war Alrunas Zeit. Sie selbst war an einem Tag geboren worden, an dem die Welt unter Eis und Schnee erstarrt war, und vielleicht gelang es ihr gerade deshalb, trotz Stille und Kälte die Lähmung abzuschütteln. Die Dunkelheit wich nicht aus ihrem Herzen, längst war sie jedoch daran gewöhnt, so wie ein langsam erblindender Mensch irgendwann nicht mehr das fehlende Augenlicht vermisste, sondern auf alle anderen Sinne setzte und sich in der Welt zurechtfand.
    An den kältesten Tagen des Jahres wurde das Kind in noch dickere Tücher gepackt, und nicht selten war sie es, die das tat. Eines Tages zog sie den Kleinen aus, um ihn zu waschen. Zumindest wollte sie das tun, bis das Kind nackt vor ihr lag. Dann erst gewahrte sie, dass sie allein war: Gunnora spielte mit Richard Schach, die Amme holte Wasser und Kräuter.
    Im trüben Licht der Kerzen schien die Haut des Kleinen gelblich wie Wachs. Ob er schmelzen würde, wenn sie ihn nahe genug ans Feuer hielt? Oder hart wie Stein werden, wenn er lange genug in der Kälte lag? So oder so, er würde aufhören zu atmen, zu quäken, zu schmatzen, neugierig in die Welt zu starren, voller Vertrauen in den Händen, die es hielten, einzuschlafen.
    Das Kind begann zu weinen und zu zittern. Anstatt es in eine Decke zu hüllen, trat Alruna zur Fensterluke. Wie immer im Winter war Schweinsleder darüber gespannt, doch Alruna riss es fort. Kalte Luft strömte hinein, belebte sie und verängstigte das Kind. Es brüllte voller Empörung, bis es krebsrot im Gesicht war. Alruna war verwirrt. Die Priester behaupteten doch, der Geist eines Kindes sei völlig leer und es sei darum nicht zu Gefühlen fähig. Die Augen des Knaben richteten sich auf Alruna, aber mehr vermochte er nicht zu tun …
    Du bist zu klein, um mich zu hassen, dachte sie triumphierend. Nicht so, wie ich dich hasse, wie ich Gunnora hasse, wie ich Richard hasse.
    Der Hass war nicht heiß genug, um der Kälte zu trotzen. Alruna ließ das Kind vor dem offenen Fenster liegen und lief in einen anderen Raum, um sich am Feuer zu wärmen.
    Wie lange dauerte es, bis ein Kind starb? Wie lange, bis die weiche weiße Haut eiskalt war, bis die Tränen versiegten, die Schreie verstummten? Wie lange, bis es erkannte, die Welt ist ein grausamer Ort, vor allem für die Schwachen, die sich nicht wehren können?
    Alruna hatte sich erst gewärmt, aber den Anblick der Flammen nicht ertragen, und war in den Hof geflüchtet. Einmal mehr hatte es geschneit, und ihre Schritte hinterließen Spuren auf der dünnen weißen Decke. Bis diese zugeschneit und nicht mehr zu sehen sein würden, war das Kind gewiss tot.
    Die Amme kam auf sie zu, das Bündel mit den Kräutern unter dem Arm und am ganzen Leib bibbernd.
    Alruna stellte sich ihr in den Weg. »Du musst dich nicht beeilen. Gunnora hat das Kind zu sich und dem Grafen geholt, du kannst es später baden.«
    »Aber es muss gestillt werden!«
    »Auch das hat Zeit, ruh dich ein wenig aus.«
    Die Frau zögerte,

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