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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Hefte dich nur an meine Fersen, ich schüttle dich nicht ab, ich drehe mich um und starre dir ins Gesicht, ich lache dich aus und spucke dich an. Gunnora hat nicht geschrien, ich schreie auch nicht.
    Gunnora war schweißüberströmt, als Alruna zu ihr trat.
    »Was ist es?«, fragte sie.
    »Ein Sohn!«, rief die Hebamme voller Stolz, als hätte sie das Kind, das, noch blutverschmiert, in ihren Armen lag, selbst geboren. »Ein kräftiger, gesunder Sohn!«
    Alruna zerriss es das Herz, doch sie rang sich ein Lächeln ab.
    »Richard wird sich freuen«, murmelte sie.
    Die Hebamme wusch das Kind, versorgte den Nabel mit einem Pulver aus Kreuzkümmel und wickelte es sodann in ein mit Olivenöl getränktes Baumwolltuch.
    Gunnora wischte sich den Schweiß ab und richtete sich auf. »Ich … ich will ihn sehen.«
    Ihre Stimme war nicht rau und dunkel wie sonst, sondern hoch und weich. Es klingt, als würde sie singen, dachte Alruna. Woher kann sie auf einmal singen? Warum ist ihr heiß und nicht kalt wie mir?
    Als die Hebamme Gunnora das Kind in die Arme legte, trat Alruna ganz nah an ihre Bettstatt. Der Kleine war zerknautscht, als wäre die Haut viel zu groß für ein so kleines Köpfchen. Seine blauen Augen waren weit aufgerissen, neugierig auf diese Welt und voller Ungeduld, sie zu erforschen. Sein Quäken klang kräftig und fordernd.
    »Du musst sehr glücklich sein«, murmelte Alruna.
    Gunnora sah sie an, und in ihrem Blick lag gleiches Wissen wie in dem Mathildas. Doch auch ihre Worte flochten mit am Netz der Lügen.
    »Ich freue mich, dass du da bist.«
    Alrunas Mundwinkel bebten. Ich bringe die Dunkelheit, niemand freut sich über meine Gegenwart, du bist doch stark, warum kannst nicht wenigstens du die Wahrheit benennen?
    Sie selbst war nicht mehr stark, sie konnte ihrem Schmerz nicht länger trotzen, ihn nicht verlachen, ihm nicht ins Gesicht spucken. Sie konnte nur vor ihm davonlaufen.
    Das Letzte, was sie hörte, ehe sie sich abwandte, waren Gunnoras Worte: »Er soll Richard heißen. Wie sein Vater.«
    Richard …
    Er würde alleiniger Erbe der Normandie sein. Dies war eines der wenigen nordischen Gesetze, die auch hierzulande galten und die an die Herkunft des Grafen gemahnten. Im Frankenreich stand allen Söhnen der gleiche Teil des väterlichen Besitzes zu, im Norden nur dem Ältesten.
    Alruna stürmte nach draußen. Die Finsternis hieß sie willkommen, aber die schneidende Kälte vertrieb sie wieder. Kaum dass Schneeflocken auf ihr Gesicht fielen, flüchtete sie sich unter ein Dach und merkte zu spät, dass sie bei den Latrinen Unterschlupf gefunden hatte – ausgerechnet an jenem Ort, an dem sie sich einst damit hatte abfinden müssen, kein Kind von Richard zu bekommen.
    Damals wie heute war der Gestank unerträglich. Sie schlug die Hände vor den Mund, sie verbiss sich ein Schreien, aber das Weinen konnte sie nicht zurückhalten.
    Niemand sah die Tränen, die Alruna auch Stunden später noch vergoss. Sie trotzte dem Schmerz nicht länger, sie höhnte nicht über ihn, sie lächelte ihn an, sanft, bescheiden.
    Sie lächelte auch, als Richard seinen Sohn als Erben anerkannte, sie lächelte, als Wevia und Duvelina ihn bestaunten – die eine wollte ihm Schmuck schenken, die andere ihm eine Geschichte erzählen –, sie lächelte, als er getauft wurde.
    Gunnora lächelte nicht.
    Vielleicht ist sie traurig, weil ihr Sohn kein Heide mehr ist, dachte Alruna.
    Doch das war offenbar ein Irrtum. Mathilda meinte später, ihr Kummer rühre daher, dass Seinfreda nicht gekommen war wie bei der Taufe, dass Gunnora ihr zwar kostbare Geschenke schicke, auf dass das Leben in Wald und Einsamkeit mehr Annehmlichkeiten böte, dass sie Seinfredas Mann Samo jedoch nicht bewegen könne, in die Stadt zu kommen, und Seinfreda nicht dazu, es wieder ohne ihn zu tun.
    Nach der Taufe trat Alruna zu Gunnora. »Darf ich ihn halten?«, fragte sie.
    Gunnora nickte.
    Das Kind war so leicht. Wie war es möglich, dass Glück kaum mehr als eine Feder wog, Unglück hingegen so schwer wie ein Wetzstein? Es erdrückte sie, nur über ihr Lächeln hatte es keine Macht. Das von Gunnora geriet etwas angespannt. Wahrscheinlich wucherten tief in ihr Zweifel an Alrunas Freundlichkeit, aber sie konnte sie nicht benennen und somit nichts dagegen tun, dass Alruna den Säugling von nun an umsorgte, wenn Gunnora mit der Haushaltsführung beschäftigt war und sich dem Sohn nicht selbst widmen konnte.
    Sie verbrachte viele Stunden mit Gunnoras Sohn, lernte, dass

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