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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Mutter war wieder in Erinnerungen versunken – keine schönen, wie die nunmehr kummervolle Miene verriet.
    »Was immer sie getan hat und ihr Leben lang vor aller Welt zu verheimlichen suchte …«, sagte sie leise, » … mir steht es ganz gewiss nicht zu, über sie zu urteilen.«

X.
965–966
    Alruna ging auf und ab. Es war November, in sämtlichen Kaminen brannten Feuer, doch in den Winkeln blieb es kalt und in Alrunas Herzen auch.
    Seit einigen Stunden lag Gunnora in den Wehen. Hin und wieder war ein tiefes Stöhnen zu vernehmen, aber sie schrie kein einziges Mal. Mathilda zählte zu den Frauen, die ihr während der Geburt beistanden, und als sie einmal kurz nach draußen kam, um frisches Wasser zu holen, lief Alruna zu ihr.
    Es war qualvoll, hier zu stehen und zu warten, doch sich zu verkriechen hätte nicht geholfen. Der Schmerz war immer gleich groß – ihm aufrechten Rückens ins Gesicht zu schauen und ihm zu trotzen, schüchterte ihn vielleicht ein wenig ein.
    »Geht alles gut?«, fragte sie.
    Sie versuchte, besorgt zu klingen, zumindest teilnahmsvoll, und obwohl sie sicher war, dass die Mutter sie durchschaute, ging diese auf ihr Spiel ein und brandmarkte ihre Heuchelei nicht als solche.
    »Sie ist stark und zäh«, sagte sie, »ich habe seinerzeit viel mehr gelitten oder es zumindest deutlicher gezeigt.«
    Kurz verdunkelten Erinnerungen Mathildas Gesicht – wohl an die Totgeburten, die sie in den Jahren nach Alrunas Geburt erlitten hatte, und an die vergebliche Hoffnung, ein zweites gesundes Kind zu bekommen.
    »Möchtest du nicht hereinkommen?«
    Alruna schüttelte hastig den Kopf. »Ich glaube, ich ertrage es nicht … den Anblick von Blut, meine ich.«
    Mathilda nickte vielsagend und verschwand wieder in der Kammer. Alruna ging auf und ab. Und wenn Gunnora starb und das Kind mit ihr? Würde es etwas ändern? Würde die Trauer Richard zu ihr treiben so wie einst, als seine Frau Emma starb?
    Aber nein, sie hatte ihn ja nicht zu ihr getrieben, nicht zu der Frau, die ihn liebte, nur zu dem Mädchen, das er für seine kleine Schwester hielt. Auch wenn Gunnora stürbe, würde er weiterhin die Nacht mit ihr bereuen und immer noch erleichtert sein, dass sie nicht empfangen hatte.
    Die Nacht brach ab, es wurde kälter, das Stöhnen lauter. Alruna war sich mittlerweile dennoch sicher: Frauen wie Gunnora starben nicht bei der Geburt, genauso wenig wie sie gestorben wäre. Sie waren beide auf ihre Weise stark, auch wenn ihre Stärke sie nicht schützte, weder vor der Kälte noch vor der Dunkelheit, die noch besitzergreifender als diese war.
    Wieder kam Mathilda.
    »Du bist ja immer noch hier.«
    »Solange das Kind nicht geboren ist …«
    »Gewiss dauert es nun nicht mehr lange. Die Hebamme braucht ein paar Kräuter, um ein Dampfbad zu bereiten. In der Wärme öffnet sich der Schoß, musst du wissen. Schon vor Stunden hat sie Gunnora überdies das Heilkraut Ackermennig um die Oberschenkel gebunden, das macht die Wehen erträglicher. Und sie hat einen Tee aus Haselwurz, Sadebaum und Raute bereitet, damit die Krämpfe stark genug sind, das Kind aus dem Leib zu pressen.«
    Alruna hörte kaum zu. Sie lugte ins Zimmer, sah die vielen Frauen neben der Hebamme und hörte, wie einige beteten, um den Beistand der heiligen Dorothea und der heiligen Margarethe zu erflehen.
    Auch Alruna murmelte ein Gebet. Helft ihr nicht. Sie ist doch Heidin, zumindest im Herzen, sie hat eure Hilfe nicht verdient. Aber sie wusste ja – Gunnora war nicht auf die heilige Dorothea und die heilige Margarethe angewiesen.
    Wenig später hörte Alruna die Hebamme rufen: »Jetzt darfst du pressen, jetzt!«
    Sie schloss die Augen. Als sie sie wenige Augenblicke wieder öffnete, vernahm sie Laute, die dem Miauen eines Kätzchens glichen.
    Mathilda kehrte im Laufschritt mit den Kräutern zurück. »Ist es da? Ist das Kind da?«, fragte sie.
    Alruna nickte, die Züge entglitten ihr.
    Ihre Mutter legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Ich weiß, was in dir vorgeht, sagte die Berührung. Und ihr Blick sagte: Es tut mir leid für dich.
    »Ich werde ihre Schwestern holen, und natürlich Richard«, tat Mathilda kund.
    Dies wäre der beste Zeitpunkt gewesen, um zu gehen, vielleicht in den Hof hinaus, damit sich die Dunkelheit ihrer Seele mit der Schwärze der Nacht verband und sich sämtliche Grenzen auflösten. Doch Alruna blieb.
    »Ich will das Kind sehen«, erklärte sie und riss sich von Mathilda los.
    Ja, Schmerz, ich habe keine Angst vor dir!

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