Meisterin der Runen
hatte – ihr entging nicht, dass in den Augen der Mutter Tränen glitzerten.
XI.
966
Alruna war sich nicht sicher, ob sie Seinfreda mochte oder nicht. Sie konnte sich nur vage an die Frau erinnern, die einst Gunnoras Taufe bezeugt, danach aber Rouen sofort wieder verlassen hatte. Sie wusste noch, dass ihre Haare nicht schwarz wie die Gunnoras waren, ihre Stimme nicht dunkel und ihre Haltung nicht steif, doch dass sie so zart war, hatte sie vergessen. Ein junges Mädchen schien noch zu sein, wer ihr da am Tag der Ankunft entgegentrat, sie freundlich anlächelte und schließlich in die ärmliche Hütte zog. Sie wirkte aufgeregt, nicht feindselig, ungeduldig, nicht zögerlich.
»Erzähl mir! Erzähl mir alles von meinen Schwestern! Wie geht es ihnen, wie groß sind Duvelina und Wevia mittlerweile? Können sie sich überhaupt noch an mich erinnern? Und mein kleiner Neffe, Richard, erzähl mir auch alles von ihm! Ich hätte ihn so gern selbst gesehen, aber ich will meinen Mann nicht allein lassen, und Samo nach Rouen zu bringen ist noch aussichtsloser als einen störrischen Esel über einen Sumpf.«
Alruna machte sich unwirsch los. Seinfredas Finger hatten Schmutzabdrücke auf ihrem Leinenkleid hinterlassen. Natürlich, hier war alles einfach. Gunnora hatte sie gewarnt, und sie hatte ja auch damit gerechnet, es Arfast gegenüber schließlich offen ausgesprochen, aber als sie sich nun umsah, dachte sie doch verzagt: Wie soll ich es hier ertragen? Was bloß den ganzen Tag lang tun?
Seinfreda schien ihrerseits eine genaue Vorstellung davon zu haben, was sie tun sollte. »Erzähl mir!«, forderte sie wieder. »Graf Richard ist doch gut zu meiner Schwester, oder?« Sie seufzte. »Wenn es nicht so wäre, würde sie mir die Wahrheit niemals anvertrauen. Ich kann mich nicht beklagen, der Graf versorgt uns bestens, aber oft frage ich mich, welchen Preis sie dafür zu bezahlen hat.«
Aus ihrem Ausdruck sprach große Sorge. Aus dem von Alruna auch. Bestens versorgt? Gütiger Himmel! In welchem Zustand war die Hütte zuvor gewesen? Nun gut, die Pelze, die die Schlafstatt bedeckten, waren gewiss weich und warm, aber sie änderten nichts daran, dass es durch die undichten Wände zog, das Dach den Regen mehr schlecht als recht abhielt und das Essen verbrannt war. Zumindest roch es so, und der Rauch stand derart dick, dass sie zunächst nicht erkannte, dass da noch jemand in der Hütte war, eine alte Frau, die sie argwöhnisch musterte.
»Das ist Hilde, meine Schwiegermutter. Samo wirst du heute Abend kennenlernen, noch ist er im Wald unterwegs«, erklärte Seinfreda, um sie sogleich weiter auszufragen. Nach den Kleidern der Schwestern, nach den Geschichten, die Duvelina erzählt bekam, nach der Sprache, die sie redeten, nach dem Schmuck, an dem sich Wevia gewiss erfreuen konnte.
»Nun lass sie doch in Ruhe«, knurrte Hilde.
Ihr Blick wurde regelrecht feindselig, und Alruna mochte sie sofort. Dieser Frau musste sie nichts vormachen, diese Frau musste sie nicht anlächeln, vor allem musste sie ihr nicht erzählen, wie glücklich Gunnora war, wie glücklich die jüngeren Schwestern. Es würde ihr Spaß machen, ihrem Blick zu trotzen, jedem zänkischen Wort mit schneidender Stimme zu begegnen und sämtliche Beleidigungen mit gleicher Münze heimzuzahlen.
»Es riecht verbrannt«, stellte sie fest – die ersten Worte, die sie überhaupt in dieser Hütte sprach.
Hilde wandte sich dem Topf zu, der an einer Kette über dem Feuer hing. Sie wartete eine Weile, dann rührte sie halbherzig darin herum.
»Wenn du Hunger hast, isst du alles. Und wenn du keinen Hunger hast, haben wir alles eben für uns«, erklärte sie rüde.
Seinfreda lächelte Alruna entschuldigend an.
»Hilde«, richtete sie sich mahnend an die Schwiegermutter, »sei doch nicht so feindselig. Gunnora hat uns eine Botschaft überbringen lassen, und darin hieß es, dass wir Alruna als unseren Gast aufnehmen, für sie sorgen und gut zu ihr sein mögen.«
»Und hast du dich nicht gefragt, warum Gunnora am großen Hof von Rouen nicht all das selbst für sie tut? Warum hat sie sie hierher in den Wald geschickt?«
»Wenn sie gewollt hätte, dass wir es wissen, hätte sie es uns gesagt«, sagte Seinfreda schnell.
Alruna trat vor. »Nun, aber ich kann es euch sagen.« Sie musterte Hilde, der Rauch kratzte in ihrer Kehle. Was immer da in dem Topf köchelte, es roch nicht nur verbrannt, sondern abscheulich. »Ich habe versucht, Gunnoras Sohn zu töten«, sagte sie in das
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