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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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rasch ins Freie. So tief in ihr der Hader auch wucherte, dass sie weder dem einen noch dem anderen Geheimnis auf die Spur gekommen war, so groß war dennoch ihr Stolz, dass die Mutter sie nicht wie ein kleines Mädchen, sondern wie eine Verbündete betrachtete, mit deren Hilfe sie das Wohl des Landes und des künftigen Grafen sichern wollte. Kaum eine Stunde von Agnes’ bislang kurzem Leben schien so viel Gewicht zu haben wie diese. Und vielleicht, wenn sie erst mal das andere Schriftstück fanden und es in Sicherheit brachten, könnte sie es überfliegen und erahnen, was dieses über das Vorleben der Gräfin verriet.
    So weit allerdings kam es nicht. Sie hatten das Haupthaus noch nicht erreicht, als sie eine aufgeregte Stimme vernahmen.
    »Da! Da ist das Mädchen!«
    Agnes war erleichtert, sich hinter der Mutter verstecken zu können, als Bruder Remi auf sie zuhastete, gefolgt vom etwas schwerfälligeren und laut keuchenden Bruder Ouen. Noch roter war dessen Gesicht, noch spitzer die Züge von Remi. Gleich groß war bei beiden die Empörung.
    »Eine Diebin!«, rief Bruder Remi anklagend. »Sie ist eine dreiste Diebin! Im Gemach der Gräfin war sie, wir haben es beide bezeugt, sie war dort, um zu stehlen …«
    Agnes blieb die Luft weg ob solch verleumderischen Vorwurfs. Dass bereits einige Wachen neugierig den Kopf hoben, minderten weder ihre Beklommenheit noch ihre Wut. Doch ehe sie sich wehren konnte, hob die um vieles beherrschtere Mutter ihre Hand, ein deutliches Zeichen, dass sie für sie zu reden gedachte.
    »So, so«, wandte sie sich an die Mönche. »Und wie wollt Ihr das bezeugen?«
    Obwohl die beiden begierig darauf waren, sie anzuklagen, nachdem sie sie endlich gefunden hatten – dass Agnes nicht irgendein Kind, sondern das einer am Hofe einflussreichen Frau war, brachte sie doch etwas ins Zaudern. Zumindest Bruder Ouen konnte den Worten nichts anderes entgegensetzen als noch lauteres Schnaufen. Bruder Remi fand die Fassung eher wieder.
    »Ihr wollt doch Männer Gottes nicht der Lüge bezichtigen!«, schnaubte er.
    »Gewiss nicht«, erwiderte die Mutter. »Wenn Ihr meine Tochter im Gemach der Gräfin gesehen habt, dann ist es so. Ich frage mich nur, warum Ihr sie dort gesehen habt, und ich bin mir sicher, dass dies die Gräfin nicht minder überraschen wird. Und Ihr plant doch gewiss, auch ihr gegenüber die Vorwürfe zu wiederholen, nicht wahr?«
    Nervös leckte Bruder Remi sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Sie wirkten bläulich.
    »Wir könnten Schweigen über die Sache breiten, wenn das Mädchen bereit ist, das, was es gestohlen hat, zurückzugeben.«
    Die Mutter lächelte freundlich. »Aber das hat Agnes doch längst. Ihr Gewissen hat ihr keine Ruhe gelassen, sie hat sich mir anvertraut, und ich habe das Diebesgut an einen sicheren Ort geschafft. Natürlich werde ich sie dafür züchtigen, doch das ist meine Aufgabe, nicht Eure. Ihr müsst Euch nicht weiter dieser leidigen Angelegenheit annehmen.«
    Immer finsterer war Bruder Remis Gesicht geworden, immer verlegener das von Bruder Ouen. Letzterer zupfte an der Kutte des anderen, ein sichtbares Zeichen, dass er sich bereits geschlagen gegeben hatte.
    Bruder Remi war noch nicht bereit dazu, rang vielmehr nach Worten, doch ehe er eines hervorbrachte, vernahmen sie in der Ferne ein Raunen, ein Getuschel, schließlich einzelne Rufe. All jene Laute kamen aus dem Haupthaus.
    Agnes begriff nicht, was die Unruhe zu bedeuten hatte, die Mönche jedoch bekreuzigten sich plötzlich, und die Mutter erstarrte.
    Kurz, ganz kurz entglitten ihr die beherrschten Züge. So hatte Agnes sie noch nie gesehen, selbst nicht, als sie die Runen erkannt hatte, so aufgelöst, tieftraurig, gepeinigt … und jung. Ja, sie wirkte wie ein junges Mädchen, das noch nicht darin geübt war, Verantwortung zu übernehmen, schwere Entscheidungen zu treffen, ihrem Mann eine gute Gattin zu sein und ihre Kinder großzuziehen.
    »Mutter …«
    Sie war eine ganz andere, fremd und unerreichbar.
    »Der Graf ist tot«, sagte sie tonlos, ehe eine Dienstmagd auf sie zugelaufen kam und diese Worte bestätigte.
    Die Magd weinte, die beiden Mönche bekreuzigten sich ein zweites Mal, und die Mutter wurde wieder Herrin ihrer selbst. Sie war nicht mehr jung, sondern schien plötzlich alt … uralt.
    »Gott sei seiner Seele gnädig.«
    Bruder Remi und Bruder Ouen beeilten sich, ins Innere des Haupthauses zu hasten, Agnes indes blieb erschaudernd stehen. Auch wenn sie wieder die Fassung gewonnen

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