Meisterin der Runen
Schweigen.
Seinfredas Lächeln schwand, Hilde aber lachte auf.
Alruna ertrug den Gestank keinen Augenblick länger. Sie floh nach draußen.
In den nächsten Tagen stellte Seinfreda keine Fragen mehr zum Wohlbefinden der Schwestern. Eigentlich sagte sie gar nichts mehr zu Alruna, lächelte nicht, mied ihren Blick und zog ihren Kopf ein.
Alruna war es nur recht so, zumindest in der ersten Zeit. Später, als sie sich an das ärmliche Leben in der Hütte gewöhnt hatte, die Lust verlor, mit Hilde zu streiten, und immer öfter die Wälder durchstreifte, begann die Langeweile ihr zuzusetzen. Ihre Liebe hatte sie nutzlos vergeudet, mit ihren Kräften hingegen etwas vernünftiger gehaushaltet: Wenn der Schmerz sie nicht völlig gelähmt hatte, hatte sie gewebt, der Mutter geholfen oder mit den anderen Frauen getratscht. Hier gab es nichts zu bereden, hier auch nichts, um die Hände geschäftig zu halten.
Sie merkte sich jeden Baum in der unmittelbaren Umgebung des Hauses, bis sie sich blind hätte orientieren können, doch dann fiel ihr nichts mehr zu tun ein. Weiter als bis zu einem kleinen Bach wagte sie sich nicht von der Hütte fort, und selbst wenn: Die Bäume würden ja doch nicht mit ihr reden, die Vögel ihr nicht zuzwitschern, wie sie ihrem Leben einen Sinn geben sollte, die raschelnden Blätter sie nicht dazu antreiben, mitzuarbeiten.
Wie hatte Gunnora jahrelang hier überleben können, ohne wahnsinnig zu werden?
Sie möge hier ihren Frieden finden und zu sich kommen, hatte diese ihr erklärt, aber schon nach einer Woche war sich Alruna fremder als je zuvor. Insgeheim begann sie sich nach einem Lächeln und nach Worten zu sehnen, und als sie eines Tages sah, wie Seinfreda zum Bach ging, um Wäsche zu waschen, folgte sie ihr lautlos.
»Kann ich dir helfen?«, fragte sie.
Seinfreda zuckte zusammen. Erst jetzt sah Alruna, in welch starkem Kontrast die dunkelroten Hände zum bleichen Körper der jungen Frau standen. Seinfredas Blick streifte sie nur kurz, ehe sie sich wieder auf die Wäsche konzentrierte, dennoch stand alles darin, was sie nach Alrunas Bekenntnis zunächst zurückgehalten hatte: Empörung, Verachtung, Verständnislosigkeit.
Alruna hockte sich zu ihr, nahm ein stark verschmutztes Kleidungsstück und tauchte es in das klare Wasser. Es wurde sogleich trüb. »Ich wünschte, ich hätte eine Schwester wie dich …«, begann sie leise zu sprechen, »… der ich alles anvertrauen könnte … die mich nicht verurteilen würde … die mich lieben würde, wie du Gunnora liebst.«
Sie rieb das nasse Leinen, so gut es ging, um der Flecken Herr zu werden.
Und wenn sich meine Seele gleichfalls waschen ließe? Und auswringen, bis kein Herzblut mehr da wäre? Blieben Flecken zurück?
Seinfreda erhob sich und blickte Alruna lange und prüfend an. »Warum?«, fragte sie schlicht, mehr nicht.
Warum sie den Neffen zu töten versucht hatte? Oder warum sie hier hockte und wusch, obwohl die Flecken nicht aus dem Leinen gingen und sie sich das Herzblut nicht von der Seele waschen konnte?
Bis zu den Ellbogen hielt Alruna ihre Arme ins eisige Wasser. Die Hände wurden so rot wie die Seinfredas und taten weh, und das war gut so, denn mit dem Schmerz kamen die Worte.
»Richard war von jeher mein Held, ich habe ihn immer geliebt, schon als kleines Mädchen. Ich wusste natürlich, er liebt mich nicht, aber es war mir genug, dass auch keine andere Frau sein Herz berührte.«
Sie schluckte, wusste sie doch, dass sie mit jedem Wort die Wahrheit nur vor sich herschob. Die Liebe zu Richard war nicht der Grund gewesen, warum sie seinen kleinen Sohn hatte töten wollen.
»Ich lag ihm eine Nacht bei«, bekannte sie nach langem Zögern endlich, »ich dachte, ich trüge ein Kind von ihm, doch dann … blutete ich.« Sie stockte, die Kehle wurde ihr eng. Gleich würde sie weinen, und die Tränen würden in den Bach tropfen. Sie hatte keine Ahnung, ob sich das trübe Wasser davon klärte oder ob die Tränen schwarz waren und es noch schmutziger machten. »Ich setzte meine ganze Hoffnung darauf … doch ich blutete. Ich wünschte mir ein Kind von ihm wie nichts auf der Welt, mehr noch als seine Liebe … doch ich blutete. Ich dachte, diese eine Nacht sei fortan mein Schatz, ein unerschöpflicher, niemals endender, mich ewig reich machender … doch ich blutete.«
Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, tropften ins Wasser. Der Bach wurde nicht schwarz, aber auch nicht klarer, ihre Seele nicht rein, aber leichter.
Seinfreda
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