Meisterin der Runen
setzte sich aufs Moos, lehnte sich an einen Baumstamm und schwieg lange. Sie wirkte nicht mehr vorwurfsvoll, nur nachdenklich, und als Alruna schon dachte, dass sie sie verstünde und ihr vergeben könnte, fragte sie plötzlich: »Siehst du hier Kinder?«
Alruna zog die Hände aus dem Wasser, sie brannten wie Feuer im kühlen Wind.
»Was meinst du?«
»Siehst du hier Kinder?«, wiederholte Seinfreda. Ihre Stimme war scharf, viel schärfer als es bei einer sanften Frau zu vermuten stand. »Ich bin seit vielen Jahren mit Samo verheiratet, aber ich empfange nicht. Wie oft, denkst du, habe ich mich an Hoffnungen geklammert, die sich nicht erfüllten? Wie oft habe ich weinend auf dem Abort gesessen? Wie oft habe ich meinen Leib verflucht und Gott um Gnade angefleht? Wie oft habe ich gedacht, der Schmerz brächte mich um, nicht, weil ich etwas verloren habe, das ich einmal hatte, sondern weil ich etwas niemals haben werde? Mit einer unglücklichen Vergangenheit lässt sich fertig werden, aber wenn uns das Morgen geraubt wird, reicht keine Träne, um den Verlust zu betrauern.« Sie räusperte sich, ihre Stimme klang nicht länger scharf, sondern war nur mehr ein Echo jahrelangen Leidens. »Meine Hoffnung wurde hundertfach enttäuscht, deine nur ein einziges Mal. Und deswegen hättest du dich beinahe dazu hinreißen lassen, ein Kind zu töten?«
Nicht nur Alrunas Hände waren nun glühend rot, sondern auch ihr Gesicht. Sie hatte sich auch vor ihren Eltern geschämt, vor Richard, selbst vor Gunnora, aber nie hatte sie sich so schäbig gefühlt wie in diesem Augenblick.
»Der Wunsch nach einem Kind«, fügte Seinfreda leise hinzu, »sollte aus der Sehnsucht nach Zukunft entstehen, nicht aus Selbstsucht, denn diese Zukunft gehört uns nicht. Auf nichts haben wir weniger Recht als auf ein Kind.«
Seinfreda erhob sich und ging, nein, sie wankte davon.
»Seinfreda!«
Alruna zog die Wäsche aus dem Wasser und eilte ihr nach. »Seinfreda!«
Die andere blieb stehen, und ihre Stimme war plötzlich so dunkel und rau wie die Gunnoras. »Du kreist um dein eigenes Leid, doch irgendwann wird es dich in die kalte Tiefe hinabziehen wie die gefährlichen Strudel eines Flusses es tun. Du musst den Fluss endlich überqueren, verstehst du? Such dir die seichteste Stelle, setze alle Kraft daran, werde ruhig nass bis zum Hals, aber recke den Kopf in die Höhe, dann wirst du genug Luft bekommen, um das andere Ufer zu erreichen. Es ist nicht unbedingt schöner dort, in der Sonne wirst du jedoch schnell wieder trocken.«
Kurz glaubte Alruna, diese Sonne zu spüren, wie sie durchs Blätterdach fiel und ihre Haut sprenkelte.
»Es tut mir leid«, sagte sie kleinlaut.
»Was?«, fuhr Seinfreda sie unversöhnlich an. »Dass der kleine Richard noch lebt? Dass Richard Gunnora liebt? Dass du hier bei mir hausen musst?«
»Nein«, murmelte Alruna, »es tut mir leid, dass du unfruchtbar bist.«
Die abweisende Miene wurde plötzlich ganz weich. Tränen liefen Seinfreda über die Wangen, gewiss nicht die ersten und nicht die letzten.
Wenn sie ins Wasser fielen, so war sich Alruna plötzlich sicher, hätten sie die Macht, es zu klären. Aber die Tränen tropften nicht in den Bach, sondern auf Alrunas Hände, als sie Seinfreda umarmte, sie an sich zog, den bebenden Körper streichelte.
»Es ist nicht gerecht«, stammelte Seinfreda, »es ist einfach nicht gerecht. Ich habe nie an mich gedacht, immer nur an meine Schwestern. Ich habe Samo doch nur ihretwegen geheiratet und Hilde nur ertragen, weil es um ihres Wohls willen keinen anderen Weg gab. Doch nun muss ich von meinen Schwestern getrennt leben und habe kein Kind, um mich damit zu trösten.«
Alruna dachte an den Schwur, den sie einst geleistet hatte: Sie hatte auf Richard verzichtet, auf seine Liebe und auf Kinder, wenn er nur lebte. Ein ähnliches Opfer hatte auch Seinfreda gebracht, und sie beide warteten vergebens, dass irgendjemand ihre Größe anerkannte und das Opfer lohnte – schlicht, weil es niemanden gab, der sie belohnen würde, nur sie, die die Macht hatten, dem Selbstmitleid abzuschwören.
Die Tränen versiegten.
»Was kann ich tun?«, fragte Alruna.
»Du kannst die Wäsche waschen.«
Seinfreda wandte sich ab, ihre Schultern bebten nicht mehr, der Augenblick tiefster Vertraulichkeit war vorüber, auch der Moment, da Alruna ahnte: Irgendwann werde ich mich nicht mehr fremd in der eigenen Haut fühlen, irgendwann wieder kann ich leben, ohne zugleich denken zu müssen, es ist ja
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