Meisterin der Runen
doch alles vergebens.
Die Kreise, die Alruna im Wald zog, wurden immer weiter, und die Angst, sich zu verirren, schwand ebenso wie die Furcht vor Wölfen und Bären. Das Licht war trübe, dennoch sah sie gut. All ihre Sinne waren hellwach, und sie lernte, alle Arten von Knacken und Rascheln und Rauschen zu unterscheiden. Ob nun der Wind durchs Geäst fuhr, Vögel an ihrem Kopf vorbeischossen, Tiere durchs Unterholz schlichen – bald zuckte sie nicht mehr bei einem der unzähligen Laute des Waldes zusammen, bald begriff sie auch, dass er viel mehr Farben bot als erwartet, nämlich alle Schattierungen von Braun, Grün und Rot.
Einmal kam sie bis zu Gunnoras einstiger Hütte – zumindest war sie sich sicher, dass es diese war. Seinfreda hatte ihr erzählt, dass die Schwester jahrelang einsam im Wald gelebt und nur dann und wann Gesellschaft bekommen habe – von ihr oder Frauen, die sie als Meisterin der Runen verehrten. Von diesen Runen sah sie nichts, und die Hütte war völlig zerfallen. Alruna fand lediglich einige Federn, vielleicht ein Zeichen, dass hier einmal ein Tier geopfert worden war, vielleicht war hier aber auch nur ein Vogel verendet. Seltsam stumm war es an diesem Ort, als wollte keiner in der Nähe hausen, nun, da Gunnora nicht mehr hier leben durfte. Alruna stellte sie sich vor, wie sie mit offenem, wirrem Haar und einfacher Kleidung vor dieser Hütte gehockt und heidnische Rituale vollführt hatte, und musste unwillkürlich schaudern.
Mittlerweile hatte sie Seinfreda lieb gewonnen, und sie hatten sich viel erzählt – nur über das, was sie dem kleinen Richard beinahe angetan hatte und über ihre Unfruchtbarkeit sprachen sie nicht wieder –, doch wenn sie an Gunnora dachte, witterte Alruna in den Tiefen ihrer Seele noch Verbitterung. Der einstige Hass war nicht vergangen, nur weil Gunnora sie in den Wald hatte bringen lassen und als Einzige Verständnis zeigte. Und als sie nun vor ihrer Hütte stand, erkannte sie, dass nicht nur ihre vergebliche Liebe zu Richard der Nährboden war, auf dem dieser Hass gedieh, sondern ihr tiefes Misstrauen allem Heidnischen gegenüber. Ihre Eltern stammten zwar von Heiden ab, wilden, räuberischen Nordmännern, die zeit ihres Lebens die Taufe verweigert hatten, aber sie hatten alles daran gesetzt, die Vergangenheit abzustreifen und sie dazu erzogen, Christin zu sein. Gunnoras Taufe hatte weder den tiefen, inneren Grusel vertrieben noch das Gefühl, sie beide stünden auf zwei Seiten, zur ewigen Feindschaft verdammt, keiner selbst erwählten, sondern einer von ihrem Blut bestimmten.
Einmal mehr dachte sie an Seinfredas Worte – dass sie den Fluss überqueren und sich am anderen Ufer von der Sonne trocknen lassen solle, anstatt im eigenen Leid zu baden, doch der Hass auf Gunnora glich gleichfalls einem solchen Fluss, und er war nicht aus Wasser, sondern aus heißem Feuer, das eine tiefe Schneise zwischen ihr und Gunnora brannte.
»Hast du mir wirklich vergeben? Hast du mich nicht vielmehr verhext? Und mich nur in den Wald geschickt, um mich loszuwerden, weil dir das Kloster nicht fern genug war?«
Die eigenen Worte ließen sie zusammenzucken, und kaum gesagt, hätte sie sie am liebsten zurückgenommen, aber sie standen da, unsichtbaren Gestalten gleich wie die der Waldgeister, die sie belauerten, verfolgten, verängstigten. Sie floh vor ihnen, vor der eigenen Unversöhnlichkeit und auch vor der Angst, ihr von Einsamkeit zermürbter Geist würde sich ebenso verbissen an den Hass klammern, wie er sich jahrelang an die Liebe geklammert hatte. So gab es doch keine Zukunft, und eine solche konnte sie manchmal erahnen wie die Sonne hinter dem Blätterdach! So würde sie doch nicht aus dem Wald hinausfinden, und dennoch wollte sie das, wenn auch nicht heute, dann irgendwann!
Nun, fürs Erste wäre Alruna schon froh gewesen, zu Seinfreda zurückzufinden. Das Dickicht glich einem Labyrinth. Anstatt es zu verlassen, drehte sie sich im Kreis und kam nach Stunden wieder bei der Hütte an.
Und wenn Gunnoras Geist sie hier gefangen hielt?
Unsinn, schalt sie sich, ging wieder beherzt los, und dieses Mal fand sie geradewegs zu Samos Hütte. Sie sah sie zwar noch nicht, aber hörte das Bächlein plätschern und laute Stimmen. Zutiefst erleichtert beschleunigte sie den Schritt.
Erst als Alruna näher kam, erkannte sie, dass eine Stimme die eines Fremden war und die andere zutiefst erschrocken klang. Ihre Erleichterung wich Unbehagen.
Der Süden hatte Agnarr keinen Ruhm
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