Meisterin der Runen
Alruna schließlich. »Aber es wird unser Geheimnis bleiben.«
Gunnora trat zu ihr und reichte ihr die Hand, jene Hand, die eben noch das Messer umkrampft hatte. Gunnoras Hand war warm. Alruna ließ sich von ihr hochziehen.
Das Schweigen war zu Ende.
Von draußen hörten sie Seinfredas Stimme, die von Samo und von Arfast, schließlich Schritte, das Knarren der Tür. Arfast stand auf der Schwelle und starrte auf den Toten.
»Was … was ist geschehen?«
»Nichts, wovon Richard je erfahren sollte«, sagte Gunnora. »Wir müssen ihn fortschaffen.«
Gunnora ließ Alrunas Hand los, doch diese fühlte die Berührung noch. Sie würde sie immer fühlen, ihr Band war fortan enger als das von Schwestern.
Sie hörte Samo aufheulen, der vor Hildes Leichnam in die Knie gegangen war, doch sein Klagen verstummte alsbald; die Tränen, die ihm die Wangen hinunterliefen, waren lautlos, sie hinterließen dunkle Schlieren. Die Trauer um seine Mutter mochte ehrlich sein, würde ihn aber nicht schwächen, sondern zu einem Mann machen, der endlich ganz allein über sein Leben entschied.
»Wir müssen auch sie begraben«, sagte Gunnora, »weit genug entfernt von … ihm.«
Alruna vermochte sich nicht aus ihrer Starre zu lösen, doch Arfast nickte, packte den Toten bei den Füßen und zog ihn aus der Hütte.
Sie hatten Agnarr schon begraben, als sie das Getrappel von Pferdehufen vernahmen, kurz darauf erzitterte der Boden. Es mussten mehr als ein Dutzend Tiere sein, doch zunächst waren nur zwei Reiter zu sehen, Raoul und Richard. Vor der Hütte hielten sie die Pferde abrupt an, und die Tiere, eben noch zum vollen Galopp angetrieben, stiegen und wieherten laut. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich ruhig standen, Richard vom Pferd sprang und zu Gunnora hastete. »Was, zum Teufel, ist passiert?«
Es war so verlockend, in seine Arme zu fallen, den Kopf an seine Brust zu legen, sich an der Gewissheit zu laben, ich lebe noch, ich liebe noch, ich bin nicht allein. Aber noch konnte sie sich nicht ausruhen, noch galt es zu lügen.
»Die Schwiegermutter meiner Schwester … sie wurde offenbar überfallen und grausam gemordet. Alruna hatte schreckliche Angst um ihr Leben und das meiner Schwester, darum hat sie Arfast um Hilfe gebeten … und dieser hat mich benachrichtigt.«
Richard warf einen Blick auf Alruna, auf Arfast, auf Samo. Niemand widersprach ihr, aber niemand bestätigte die Geschichte.
»Warum hast du mir nichts gesagt? Und wie konntest du ganz allein hierherkommen? Bist du verrückt geworden? Einfach nachts das Zelt zu verlassen …«
Gunnora presste die Lippen zusammen. Das Netz aus Lügen war nicht sehr reißfest. Anstatt bedächtig daran zu weben, hatte sie die ersten Fäden verknüpft, die ihr unter die Hände kamen. Was immer sie sagte, würde ihr Verhalten nicht bis ins Letzte erklären.
Arfast trat vor: »Es ist alles meine Schuld … ich hätte zu dir kommen müssen, nicht zu Gunnora.«
»Ich verstehe ja, dass du ihr als Erstes davon berichtet hast. Aber warum wart ihr so wahnsinnig, allein loszureiten? Und überhaupt, was macht … sie hier?« Sein Blick hatte sie zuvor nur flüchtig gestreift, jetzt bohrte er sich in Alruna.
Gunnora unterdrückte ein Seufzen. Stark und unbesiegbar hatte sie sich gefühlt, nachdem sie Agnarr getötet hatte – jetzt nur mehr hilflos. Selbst wenn ihr Lügennetz nicht risse – es konnte die Wahrheit kaum verdecken, und vor allem taugte es nicht dazu, Richards und Alrunas Versöhnung zu bewirken.
Während sie vergebens um Worte rang, trotzte Alruna Richards Blick und trat vor. »Es war alles ganz anders«, erklärte sie. »Es war kein Diebespack, das die Hütte heimsuchte, vielmehr der Anführer der Heiden, Agnarr.«
Gunnora erbleichte, Richard auch. »Agnarr war hier?«
Alruna nickte, zerriss das Netz damit endgültig, aber spann unvermittelt ein anderes. Sie war geübt zu weben, und darum gelang es ihr besser.
»Er trachtete Gunnora nach dem Leben und benutzte Seinfreda, um ihrer habhaft zu werden. Später kann sie dir mehr erzählen, im Augenblick zählt einzig, dass ich Gunnora herbeigerufen habe, sie jedoch zu spät kam. Als sie eintraf, war Agnarr bereits überwältigt und ermordet.«
»Von wem?«, fragte Richard fassungslos. »Von dir?«
Alruna nickte. »Es gelang mir mit seiner Hilfe.«
Sie deutete auf Samo, und der mochte zwar einfältig sein, aber nicht so dumm, dass er nicht begriff, dass es einen guten Grund geben musste, warum die Frauen die Geschichte
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