Meisterin der Runen
Seinfredas flehentlichen Blick nicht spüren. Stolz wandte sie sich zur Tür.
»Niemand vertreibt mich. Wo ich nicht willkommen bin, dort bleibe ich nicht.«
Mit diesen Worten verließ Gunnora das Haus. Ginge es nach ihr, würde sie es nie wieder betreten.
Sie war erst wenige Schritte gegangen, als die Schwestern ihr nachgeeilt kamen. Duvelina klammerte sich an sie.
»Wo ist Mama, ich will zu Mama!« Seit Wochen hatte sie diese Frage nicht mehr gestellt.
Wevia hingegen wirkte starr und stumm, als wäre sie tot, und Seinfredas Gesicht war nicht mehr rot, sondern bleich wie eh und je.
»Wie sollen sie’s ertragen, auch dich zu verlieren?«, rief sie und deutete auf die jüngeren Schwestern. Tränen liefen über deren Wangen, so viele, so heiße. »Schluck deinen Stolz und komm wieder herein!«
Gunnoras Wille wankte. Wie sehr sie die Mädchen an sich ziehen, liebkosen, trösten wollte! Wie es ihr das Herz brach, es nicht zu tun!
»Es ist nicht mein Stolz, der mich so handeln lässt, sondern meine Pflicht – die Pflicht unseren Eltern gegenüber«, erklärte sie dennoch entschlossen.
»Du denkst, du handelst in ihrem Sinne, wenn du uns im Stich lässt?«
»Sie sind in dieses Land gekommen, weil sie ein besseres Leben erhofften, nicht, um zu verleugnen, was sie denken und glauben. Ich für meinen Teil werde sie nicht verraten.«
Sie löste Duvelinas Hände von ihren Beinen, und zu ihrem Erstaunen verstummte die kleine Schwester, entweder vor Schreck oder weil sie fühlte, dass von Gunnora keine mütterliche Wärme mehr zu erwarten stand. Seinfreda hob sie hoch. Mit Duvelina auf dem Arm wirkte sie noch zarter, noch zerbrechlicher.
»Es tut mir leid«, sagte Gunnora schlicht.
Seinfreda schluckte, rang nach Worten, aber sah wohl ein, dass sie ihre Schwester nicht dazu bewegen konnte, umzudenken.
»Wie willst du im Wald überleben?«, fragte sie schlicht.
»Mach dir keine Sorgen, ich bringe mich schon durch. Und ich bleibe auch in eurer Nähe, du kannst mich jederzeit sehen, ich werde mich um euch kümmern … auf meine Weise.«
Ja, dachte sie, ich werde Segensrunen schnitzen, werde Opfer bringen, werde die Götter gnädig stimmen. Ich werde den Christ verfluchen, der unsere Eltern getötet hat, und Rache schwören.
Wortlos ging sie davon. Sie brachte es nicht übers Herz, sich zu verabschieden, und Seinfreda ihrerseits sagte nichts mehr. Mit Duvelina auf dem Arm und Wevia an der Hand sah sie ihr nach. Mehrmals drehte sich Gunnora nach ihnen um, doch die Bäume standen so dicht, dass Blätter, Äste und hochgewachsene Farne bald den Blick auf die Schwestern verdeckten.
Alruna gönnte weder Arfast noch den Pferden und am allerwenigsten sich selbst eine Rast. Richard hatte mit seinen Männern einen Tag vor ihnen Rouen verlassen, und die einzige Chance, ihn aufzuhalten, war, den ganzen Tag durchzureiten.
So willig Arfast ihrem Ansinnen zunächst gefolgt war – nach etlichen Stunden auf dem Pferderücken legte er Protest ein. »Wir sollten in einer Herberge oder in einem Kloster einkehren und uns stärken, ich kenne einige nicht weit von hier.«
Alruna würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. Seit einer ganzen Zeit ritt sie ihm voraus und drehte sich auch jetzt nicht nach ihm um. »Ich kann nichts essen, wenn ich ihn in Gefahr weiß«, sagte sie.
Unbemerkt war er aufgeschlossen und hatte die Worte gehört, obwohl sie nicht für ihn bestimmt waren, nur ihre eigene Entschlossenheit schüren sollten. »Du weißt nicht, ob er in Gefahr ist … du glaubst es nur aufgrund deines Traumes zu ahnen.«
»Die Priester sagen, dass Träume Botschaften von Gott sind. Wenn du mir nicht glaubst, warum bist du dann mitgekommen? Und wenn du Zweifel hast, warum kehrst du dann nicht um?«
»Ich soll dich allein lassen? Selbst zu zweit ist’s auf den Wegen gefährlich. Räuber lauern überall.«
»Wir sind nicht in so großer Gefahr wie Richard.«
»Aber ihm ist nicht geholfen, wenn unsere Pferde vor Erschöpfung zusammenbrechen.«
Alruna gab nach. Bei der nächsten Herberge legten sie eine Rast ein, um die Pferde zu tränken, zu füttern und auch selbst ein wenig zu essen, aber danach ging es unverzüglich weiter. Sie ritten unter schweren Wolken, die sich erst gegen Abend hin etwas lichteten. Das blutige Rot der untergehenden Sonne schien den Herbstwald zu spiegeln. Nie hatte Alruna so lange auf dem Pferd gesessen – nie war sie so weit von Rouen fort gewesen. Ihre Eltern machten sich sicher Sorgen, bei ihrer
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