Meisterin der Runen
Fall fand er es nicht wert, über das eine oder das andere auch nur ein Wort zu verschwenden. Am liebsten hätte er sie wohl sofort nach Rouen zurückgeschickt, aber sie allein Arfasts Obhut anzuvertrauen, schien ihm zu unsicher, und so erklärte er, es ihrem Vater schuldig zu sein, sie erst mit nach Beauvais zu nehmen und sie danach nach Hause zu geleiten.
Alruna brannte das Gesicht, wenn sie daran dachte. Ihr Vater stand ihm näher als sie. Nicht länger war sie ihm eine Schwester, sondern jetzt nur noch ein dummes, lästiges Kind.
Seit dem Aufstehen starrte sie hartnäckig auf den Boden. Es wäre ihr unerträglich gewesen, ihn allein fortreiten zu lassen, doch ihm zu folgen und die aufdringlichen Blicke seiner Männer zu spüren war keine geringere Qual. Richard war der Einzige, der sie nicht verstohlen ansah und über sie spottete, sondern sich beharrlich von ihr fernhielt, und zum ersten Mal ahnte sie, dass ihn zu lieben nicht bedeutete, ihn auch zu kennen.
Sein Lächeln ließ ihn weich und jungenhaft erscheinen, doch wenn sie sich jetzt recht besann, hatte es selten seine Augen erreicht, und auch jetzt wirkten diese hart und kalt. Er war kein Junge, ganz gleich, wie oft er sie geneckt hatte, er war ein Mann, der nie ein Junge hatte sein dürfen: Erst zehn Jahre alt war er gewesen, als er den Vater verloren und fortan um sein Reich hatte kämpfen müssen, das ihm so viele Feinde rauben wollten. Und ein Mensch, der gewohnt war, sich an erster Stelle um sich selbst zu sorgen, war offenbar nicht fähig, allzu viele Gedanken an andere zu verschwenden.
Hatte der Gedanke daran bislang immer nur ihr Mitleid erregt, war es nun erstmals Zorn – das einzige Gefühl, das taugte, ihre Scham in Schach zu halten.
Er kann nicht lieben, dachte sie plötzlich, und deswegen versteht er nicht, was ich für ihn fühle. Er lässt es nicht an sich heran, er lacht es einfach weg, so wie er es mit allem tut, was ihm zusetzt – und wenn das Lachen einmal nicht laut genug ist, das Knirschen des Weltgefüges mit all seinem Leid und Elend zu übertönen, dann reitet er davon oder flüchtet sich zu den Konkubinen oder schützt sich mit Härte.
Nicht nur sie hatte keinen Platz in seinem Herzen, keiner hatte einen. Würde er eine andere lieben, wären ihm zumindest Mitleid und Verständnis nicht fremd, und er hätte beides bewiesen, indem er nicht einfach gelacht hätte.
Sie starrte auf ihre Hände, fühlte sich nicht länger nur beschämt, sondern verletzt, wurde für Richard so blind wie er für sie und merkte kaum, als der Zug sich verlangsamte. Die Pferde liefen ohnehin nicht schnell, da einige die Basterna zu ziehen hatten, nun hielten sie inne, und auch die Räder rollten nicht weiter. Arfast beugte sich vor, umfasste ihre Zügel und brachte ihr Pferd zum Stehen.
Verwirrt blickte sie hoch. »Was ist passiert?«
Sie war nicht sicher, ob Arfast ihr Geständnis Richard gegenüber gehört hatte. Falls ja, ließ er sich nichts anmerken. Er wirkte angespannt, hatte keine Augen für sie, nur für die zwei Krieger, die in der Ferne sichtbar wurden. Zunächst waren sie nur an ihren Helmen zu erkennen, später an den Schwertern, die sie am Gürtel trugen. Sie sahen nicht wie Normannen aus, sondern wie … Franken.
Alruna zuckte zusammen. Eben noch hatte sie mit Richard gehadert, jetzt hätte sie sich am liebsten vor ihn geworfen, um ihn vor den Kriegern zu schützen.
Allerdings, es waren genug andere Männer da, genau das zu tun, und diese hoben drohend Lanzen und Schwerter. Die beiden Krieger näherten sich zögernd und sich der Übermacht gewiss bewusst – was wiederum bedeutete, dass sie entweder Toren waren, die den Heldentod suchten, oder in friedlicher Absicht kamen.
Arfast zog ihr Pferd ganz nahe an seines. »Du solltest in Rouen sein, an deinem Webstuhl, in Sicherheit …«
Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich weiß, dass ihr mich alle für verrückt haltet, aber …«
»Ich habe nie gesagt, dass ich deinem Traum nicht traue.«
Von ihm Recht zu bekommen ließ sie die Schmach, von Richard verlacht worden zu sein, nur noch bitterer schmecken. Wütend wollte sie etwas entgegnen, doch da presste er ihr die Hand vor den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen, waren die beiden Krieger doch nahe genug gekommen, um erst der Vorhut mitzuteilen, wer sie waren und was sie herführte, und später, als man sie zu ihm vorließ, Richard selbst.
Alruna vernahm einzelne Namen – Thibaud le Tricheur, Bruno, Gerberga, König
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