Meisterin der Runen
sich nirgends festhalten, war prompt bis zum Grund der Seele vorgedrungen. Es war ein dunkler Weg, den man bis dorthin zurücklegte – dunkler als bei Menschen wie Arfast. Er führte in ein Dickicht, das jedes Licht beschnitt, in einen Sumpf, in dem man lautlos ertrank.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Sie war nicht sicher, was ihm dieses Bekenntnis abrang – ob die Begegnung mit den Feinden und dem Tod oder das Wissen, dass sein Sieg eine Gnade, kein Recht gewesen war. In jedem Fall deutete sie es sofort. Er bat um Verzeihung, weil er ihr damals nicht geglaubt hatte, sie würde ihn lieben. Und er bemitleidete sie dafür, dass sie es tat.
»Richard …«, sagte sie wieder.
Die Worte brachen förmlich aus ihm hervor. »Ich kann dir nichts geben, ich gehöre meinem Land. Niemandem kann ich etwas geben, auch all den anderen nicht.«
Sie schluckte. Das also war es, was ihm Gefahr und Kriegsglück abtrotzten: die Einsicht, dass er nicht nur sie nicht liebte, sondern auch keine andere Frau. Glück konnte er ihr nicht versprechen, sie nur von jeglicher Eifersucht erlösen.
Seine Worte waren nicht tröstlich wie ein Kuss, nicht warm wie eine Umarmung, nicht lustvoll wie eine Nacht in seinem Bett – doch nach all den Jahren, da sie sich von ihm nicht nur verschmäht, sondern verkannt gefühlt hatte, versprachen sie Labsal.
»Und dennoch …«, sagte sie, mehr nicht.
Sie musste nichts sagen. Er konnte ja selbst in ihrem Gesicht lesen, dass sie ihn niemals aufgeben würde.
Und dennoch liebe ich dich – ganz gleich, ob ich viel oder wenig von dir bekomme.
Kurz war es viel. Seine Hände streichelten über ihr Haar, seine Lippen küssten ihre Stirn, verharrten dort, und sie fühlte seinen warmen Atem.
Doch dann löste er sich von ihr und wurde wieder der Alte, der Mann, der sie für eine Schwester hielt und sein Amt nicht als Bürde empfand.
»Auch deinem Gebet ist es zu verdanken, dass ich noch lebe und dass wir siegreich waren«, sagte er. »Welchen Gefallen kann ich dir tun?«
Ihre Stirn glühte. Geküsst … er hatte sie geküsst … Es war nicht nur brüderlich gewesen, sondern hungrig … verzweifelt … der Kuss eines einsamen Menschen.
»Sag, was wünschst du dir?«
Sie dachte nicht lange nach.
»Mich macht man nicht mit einem Geschmeide glücklich, nicht mit einem Blumenkranz oder einem schönen Kleid. Was ich mir wünsche, ist ein gemeinsamer Ausritt in den Wald.«
Gunnora beschleunigte ihren Schritt. Das Licht, das durch die Wipfel drang, wurde immer fahler, die Schatten der Bäume immer schwärzer, doch ihre Hütte war nicht zu sehen. Selten hatte sie sich so weit fortgewagt wie an diesem Tag, und längst bereute sie es, obwohl der Anlass eigentlich ein erfreulicher war – eine der Bäuerinnen, die sie regelmäßig aufsuchten, hatte ein Kind geboren und sie zu sich gerufen, um ein Disablót darzubringen, ein Opfer für Disir, einen Schutzgeist, der die neugeborenen Kinder bewachte.
Der Anblick des Kleinen hatte Gunnora gerührt. Es war noch voller Blut gewesen, doch dieses Blut stand nicht für Tod und Verderben, sondern für neues Leben, nicht für Gewalt und Grausamkeit, sondern für Unschuld und Hoffnung. Als sie das Kind hielt und an seinem Köpfchen roch, musste sie voller Wehmut und Sehnsucht an ihre jüngeren Schwestern denken. Es fiel ihr schwer, es wieder herzugeben. Sie opferte später ein Huhn, fragte sich dann jedoch, ob es dem Kind nicht mehr geholfen hätte, hätte sie es noch länger gestreichelt, liebkost und geküsst.
Nach ihrem Aufbruch hatte sie sich noch einsamer als sonst gefühlt, doch mittlerweile begann sie, mehr als die Einsamkeit die Menschen zu fürchten. Die Bäuerinnen hatten sie allesamt gewarnt. Erst kürzlich hatte nicht weit entfernt eine wilde Schlacht getobt; noch immer waren allerorts Krieger unterwegs, und auch wenn diese für gewöhnlich nichts in den Wald trieb, hatte sich vielleicht einer von ihnen im Dickicht verirrt.
Sie musste endlich ihre Hütte finden!
Das Moos schien nicht saftig grün, sondern schwarz und leblos wie Kohle, die Berührung der Farne wie die von Händen – keine freundlich zupackenden, die sie streichelten oder ihr den richtigen Weg weisen wollten, sondern die verwunschener Geschöpfe, die sie in das verbotene Reich der Elfen und Zwerge lockten. Gunnora hatte zwar immer versucht, diese geneigt zu stimmen, indem sie geschnitzte Runen vor Quellen legte, kleine Hügel mit Opferblut tränkte und ein paar Bissen des Fleisches, das sie
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