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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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entschlossener erwies als der Vater. Dieser schwieg – die anderen nicht.
    »Mauern können fallen«, behauptete ein alter Mann, »ich war einst dabei, als Hugo der Große Bayeux belagert hat. Riesige Katapulte schleuderten Felsbrocken gegen das Gemäuer. Auf sechzehn Rädern fuhren sie und konnten so mühelos von Ort zu Ort gezogen werden.«
    »Aber Hugo hat Bayeux damals nicht eingenommen«, erwiderte die Mutter, »ehe die Stadt fiel, hat ihm der fränkische König befohlen, nach Paris zurückzukehren.«
    »Jetzt wird das niemand tun. Richards Gegner mögen zerstritten sein, doch die Allianz, die sie geschmiedet haben, um ihn zu stürzen, wird lange genug halten, bis sie endlich das Land besetzt und unter sich verteilt haben. Dann wird es neue Kriege geben – nicht gegen Richard, sondern untereinander, aber uns nützt das nichts. Denn wir sind dann schon tot.«
    Noch mehr schreckliche Bilder wurden beschworen – von einem Hagel aus Wurfspießen, Pfeilen, Steinkugeln und Pechfackeln, von kochendem Öl, das auf die Angreifer geschüttet wurde, von Schreienden und Verbrannten, die sich vom Schmerz nicht bezwingen ließen, sondern die Mauern stürmten.
    Mathilda suchte Alrunas Blick. »Hab keine Angst«, murmelte sie.
    Alruna hatte keine Angst. Zumindest nicht um sich. »Er muss leben …«
    Mathilda ging nicht darauf ein. »Kannst du dich an die Geschichten erinnern, die ich dir als Kind erzählt habe?«, fragte sie.
    Alruna nickte. Früher hatte ihr die Mutter oft über Rouens Vergangenheit berichtet. Zwei Belagerungen hatte die Stadt durchgemacht, vielleicht auch mehr, doch nur an die beiden konnten sich die Menschen, die heute lebten, noch erinnern.
    Einmal hatte Rollo, der erste Graf der Normandie, Rouen eingenommen, indem er fünfzehn Schiffe in einer Flusswindung versteckte, heimlich ein Loch in den Boden graben ließ, der die Mauern umgab, und es mit Ästen und Gebüsch verbarg. Er lockte die Einwohner aus der Stadt, und ehe diese ihre Waffen ziehen konnten, fielen sie in den Graben und waren Rollos Mannen schutzlos ausgeliefert.
    Das andere Mal – es war erst wenige Jahre her – hatte Kaiser Otto nach der Stadt getrachtet. Als seine Truppen ankamen, lud Richard ihn jedoch freiwillig ein, in Saint-Ouen zu beten, und als er ihn durch die Straßen führte, wurden überall Spieße mit Rind- und Schaffleisch gebraten, ein Zeichen, wie wohlhabend die Städter waren und wie lange es dauern würde, ihren Widerstand zu brechen. Als Otto in sein Lager zurückkehrte, war er nicht vom Gebet gestärkt, sondern vom Geruch nach krossem Fleisch mürbe gemacht, und er beschloss, die Stadt nicht zu belagern.
    Ja, oft hatte ihr die Mutter davon erzählt. Sie hatte sie nie glauben lassen, die Welt sei ein friedlicher Ort und die Heimatstadt ein Paradies. Doch von toten Männern zu hören, wenn man gemütlich beim Kamin saß, war aufregend, nicht beängstigend. Nie schürten die Geschichten Angst, nur Liebe zu Richard, und die Überzeugung, dass er unbezwingbar sei.
    Aber nun war sie kein Kind mehr, sie lag nicht im weichen Bett, und sie wusste: Richard war nicht ohne Furcht, er zeigte sie nur nicht.
    »Ich ertrage es kaum, nicht zu wissen, was draußen geschieht«, murmelte sie.
    Mathilda strich ihr über den Kopf. »Soweit ich weiß, versucht Richard, seine Gegner einmal mehr zu überlisten. Er gibt vor, aus Rouen geflohen zu sein, und wenn die Feinde ganz nahe sind und sich am Ziel wähnen, wird er sie hinterrücks überfallen.«
    Alruna hörte ihr kaum zu. »Er soll leben«, sagte sie ein ums andere Mal.
    Mathilda nickte. »Das soll Raoul auch. Und Arfast. Und all die tapferen Männer dort draußen, die für die Zukunft der Normandie kämpfen, sollen es.«
    Ihre Stimme klang erstickt, und obwohl sie von ihren Ängsten um Richard so gefangen war, entging Alruna nicht, dass ihre Mutter weinte. Das hatte sie noch nie getan, zumindest nicht vor ihr.
    »Ach, Mutter …«, seufzte sie.
    Sie selbst hatte keine Tränen, und auch als die zweite Nacht vorüberging, machte sie kein Auge zu. Zu sehr fürchtete sie sich vor dunklen Träumen.
    Über Stunden stimmte sie nun ins allgemeine Gebet ein, sprach Psalm um Psalm und dann, zwischen zwei Versen, plötzlich: »Ich brauche deine Liebe nicht, Richard, ich verzichte gern darauf. Ich brauche keinen Mann, keine Kinder, keinen Reichtum. Und wenn du mir nie wieder ein Lächeln schenkst, mich nie wieder ansiehst, es soll mir genug sein, dass du lebst.«
    Der neue Morgen nahte, und sie

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