Meisterin der Runen
Hände«, schloss Alruna an ihrer statt den Satz.
Deswegen erwiesen sich alle, die im Hof herumliefen, als so kopflos. Jeder fürchtete um sein Leben, wusste aber nicht, wie er es retten konnte. Dachte denn niemand an Richard – Richard, den sie jetzt plötzlich in der Ferne zu erspähen glaubte? Sie war sich sicher gewesen, dass er schon ausgerückt war, doch tatsächlich: Eben trat er dort hinten aus dem Stall, trug Helm und Rüstung und ging daran, sein Pferd zu besteigen. Arfast war an seiner Seite, desgleichen Raoul.
Alruna warf ihren Umhang ab – und ihren Stolz nicht minder. In den letzten beiden Jahren hatte sie sich beharrlich von ihm ferngehalten und nie gezeigt, wie sehr es sie kränkte, dass er ihre Liebe nicht ernst nahm, doch nun trat sie den Stolz bereitwillig in den Staub.
Sie rannte auf ihn zu, erreichte ihn, noch ehe er sein Kampfross bestieg, umarmte ihn, ja, klammerte sich an ihn.
»Kehr zurück zu mir, kehr zurück zu mir!«
Er sah sie an wie eine Fremde, doch gerade weil er sich nicht innewurde, wen er da vor sich stehen hatte, stand weder Gönnerhaftigkeit noch Herablassung in seinem Blick. Sie witterte die Furcht in ihm, die er vor anderen gekonnt verbergen konnte, und fühlte sich ihm nahe wie nie. Wenn er sich nur ein wenig vorbeugen würde, dann könnte sie ihn küssen!
Arfast war’s, der sie zurückriss. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst.«
Wie sie ihn hasste in diesem Moment! Und wie sie Richard liebte, obwohl der ausdruckslos sagte: »Er hat recht.«
Er wandte sich ab, ohne dass sie seine Lippen geschmeckt und das Bekenntnis, dass sie ihn liebte, wiederholt hatte. Aber Alruna war sich sicher: Tief in seinem Herzen wusste er es, hatte es immer gewusst, und in diesem Augenblick war es ihm nicht lästig, sondern gab ihm Mut und Stärke, den Feinden erhobenen Hauptes entgegenzureiten.
Nachdem die Männer fort waren, eilten die Eltern an ihre Seite.
»Wir bleiben hier«, entschied ihr Vater, »es ist zu spät zu fliehen. Am besten, wir ziehen uns in die Kapelle zurück und beten. Gott der Allmächtige steh uns bei!«
Die Kirchentore wurden verschlossen, die Fenster mit Balken zugenagelt, und die Menschen drängten sich um den Altar, als böte die Nähe zum Gekreuzigten besonderen Schutz.
Welch ein Irrglaube, dachte Alruna. Wenn das Tor nachgibt, werden wir alle niedergemetzelt, geschändet, versklavt …
Die Menschen beteten für Richard, nicht für sich selbst, doch sie war sich sicher, dass ihnen die eigene Zukunft mehr Kopfzerbrechen bereitete als die ihres Grafen.
Welch ein Irrglaube, dachte Alruna wieder. Als könnte man Gott etwas vormachen, ihn mit Selbstlosigkeit gnädig stimmen und gegen besseres Wissen darauf hoffen, dass er auf die Heuchelei hereinfiel, das Schicksal des Landes stünde vor dem eigenen.
Alruna war als Einzige ehrlich, wenngleich nicht überzeugt, ob Gott das besser gefiel und ob es überhaupt einen Unterschied machte. Was immer geschehen würde – es lag ja doch in Richards Händen, nicht in denen des Allmächtigen.
Trotz dieser Einsicht, die die Priester wohl als Gotteslästerung anprangern würden, hörte sie nicht zu beten auf. Gib ihn mir zurück, ob als Grafen der Normandie oder als Niemand, es ist mir gleich. Gib ihn mir nur wieder.
Die Gebete schienen ungehört im Gewölbe zu entschweben, der Rauch stand immer dichter, die Leiber schwitzten immer mehr, und als der Morgen nahte, dachte Alruna, dass auch sie beim Beten log. Es war falsch zu sagen, gib ihn mir nur wieder, weil es schlichtweg kein Wieder gab. Er hatte ihr ja nie gehört.
Niemand begrüßte den neuen Tag. Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Spalten drangen, wurden vom Grau verschluckt. Stunden verrannen, viele schliefen ein, schnarchten mit offenen Mündern und schreckten wenig später panisch wieder hoch. Es machte keinen Unterschied, als sich erneut Nacht über das Land senkte. Das Licht blieb gleich trübe, und es gab immer noch keine Nachricht.
Das Gemurmel, flehentlich und verzweifelt zunächst, wurde immer rauer. Man beschwor nicht länger nur Gott, sondern auch schreckliche Bilder.
»Wenn Richard die Feinde nicht aufhalten kann und sie ungehindert Rouen erreichen, ist das unser Ende«, jammerte einer.
»Selbst wenn die Allianz seiner Widersacher Richard besiegt, müssen die Truppen erst die Stadtmauer überwinden«, gab Mathilda zu bedenken, die tapfere Mutter, die sich in diesen Stunden als zäher und
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