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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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hörten ein Knarren. Licht fiel in den Kirchenraum. Alruna erhob sich. Offenbar hatte sie in den letzten Stunden doch geschlafen, so tief, dass sie nicht geträumt hatte, und jetzt war sie zu verwirrt, um zu begreifen, was geschehen war und warum man freiwillig die Portale der Kirche öffnete.
    Ein Mann schritt hindurch, nein, wankte vielmehr, blutüberströmt, verletzt, aber nicht tot, stark genug, um die Hand zur Geste des Triumphs zu erheben.
    Der Mann war Arfast.
    Mathilda schrie freudig auf, Alruna blieb stumm. Warum war er hier, warum nicht Richard? Doch wenn Richard tot wäre, würde Arfast nicht begeistert brüllen, und das tat er aus voller Kehle. Zuerst wild wie ein Tier, dann die Botschaft verkündend, dass die Schlacht gewonnen sei.
    »Wir waren siegreich! Wir waren siegreich!«
    Angespanntes Schweigen hatte ihn erwartet, nun brandete Triumphgeheul auf. Selbst der stumme Vater fand seine Sprache wieder, und die Mutter weinte noch mehr Tränen, dieses Mal nicht Angst, sondern vor Freude. Das Geschrei ging schließlich in schadenfrohes Gelächter über, als Arfast von Thibauds schwerer Niederlage berichtete, von seiner überstürzten Flucht, von der Schmach, die all seine Verbündeten erlitten hatten. Nur Alruna brachte kein Wort hervor.
    Er lebt … er lebt … er lebt …
    Das heiße Glücksgefühl blieb aus, noch waren ihre Sinne wie betäubt. Erst als sie in die Sonne hinaustrat, vermeinte sie, wieder zu sich zu kommen, und lächelte. Noch nie in ihrem Leben war es so lange Nacht gewesen.
    Rouen war trunken vor Freude. Wenige Tage zuvor erst waren die Menschen sinnlos im Kreis gerannt, weil sie nicht sicher waren, ob sie fliehen oder bleiben sollten, jetzt strömten sie aus den Häusern, um den Sieg zu feiern. Man aß, man trank, man sang, man tanzte, man fiel seinem Nachbarn um den Hals, ob man ihn mochte oder mit ihm verfeindet war.
    Kann uns Richard schützen?, war jüngstens noch die bange Frage gewesen, die in den Gesichtern aller gestanden hatte.
    Was haben wir für einen wackeren Grafen!, war jetzt die Botschaft, die alle einte.
    Ein wenig anmaßend kam es Alruna vor, dass ein Held gefeiert wurde, an dem man eben noch gezweifelt hatte, aber auch sie ließ sich von der allgemeinen Begeisterung anstecken, jubelte bei Richards Einzug und genoss es, dass der Klang aller Glocken durch Mark und Bein ging. Sie flocht sich bunte Bänder ins Haar, fühlte sich kurz, wie sich alle fühlten, selbst die von Alter und Krankheit gebeutelten Greise: jung und kraftvoll und stark. Sie teilte den kecken Tonfall, der bei jeder Stimme mitschwang, wenn vom schmählichen Ende der Feinde berichtet wurde, von Thibauds Flucht nach Blois, nachdem Chartres gefallen war, und vom Großmut Richards, der alle Gefallenen, ob eigene Mannen oder Feinde, nach christlicher Sitte bestatten ließ. Évreux war zwar immer noch in Feindeshand – es wurde von einem Mann Thibauds gehalten, der sich hinter den hohen Mauern versteckte wie eine Ratte –, aber daran wollte in diesem Augenblick niemand denken. Und falls doch jemand den Namen nannte, so war man überzeugt, dass irgendwann auch diese Stadt an den zurückfallen würde, dem sie gehörte: an Graf Richard.
    Nimmermüde war Rouen in diesen Tagen, und das stete Wachen und Feiern machte hungrig. Eine Festtafel nach der anderen wurde gedeckt, die Mutter hatte alle Hände voll zu tun, und Alruna musste ihr helfen, bis sie irgendwann nicht mehr Freude, Erleichterung oder Triumph empfand, sondern nur noch Erschöpfung.
    Sie ging zu ihrem Webstuhl, um etwas Ruhe zu suchen, denn auch wenn er stillstand, verhieß sein Anblick doch ein gemächlicheres Leben, das auf all die Aufregung folgen würde. Während sie die Wolle befühlte und im Kopf einen Wandteppich entwarf, der von Richards Sieg kündete, hörte sie ein Räuspern.
    Alruna wusste sofort, dass er es war, und fuhr mit pochendem Herzen herum.
    »Richard …«
    Er war ihr gefolgt. In die Freude über sein Erscheinen mischte sich Entsetzen. In sämtlichen Gesichtern standen Begeisterung und Genugtuung – nur in seinem nicht. Er sah müde aus, alt und fahl.
    Als sie auf ihn zustürzte, fiel ihr wieder ein, dass sie ihn beinahe geküsst hatte, bevor er den Feinden entgegengeritten war. Jetzt würde sie es nachholen, jetzt konnte niemand sie stören, jetzt schien er zu kraftlos, um sich zu wehren, falls er es nicht wollte. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sein Blick schien nicht hart, vielmehr weich. Man versank darin, konnte

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