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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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in einem Lederbeutel zu verstauen. Mit dieser Waage wurde ein weiteres Zahlungsmittel gewogen – jenes Bruchsilber, zu dem die Nordmänner einst ihr Raubgut, Münzen, Broschen, Armringe, Schalen oder Kruzifixe zerhackt hatten und das in späteren, friedlicheren Zeiten nicht immer vom Schmied zu einem Barren eingeschmolzen worden, sondern in diesem Zustand noch im Umlauf war.
    Gunnora lernte nicht nur jeden Tag Neues, sondern gewöhnte sich an die Gesellschaft der vielen Menschen, an das Stimmengewirr und an die verschiedenen Sprachen. Sie versuchte, sich das eine oder andere Wort zu merken, stets mit der mahnenden Stimme ihres Vaters im Ohr, der Pferde nicht nur gezüchtet, sondern auch verkauft und den Kindern oft erklärt hatte, dass ein guter Händler fähig sein müsse, in vier, fünf Sprachen über Ware und Preis zu verhandeln.
    Erst bedeutete es eine Überwindung, mit Fremden zu sprechen, später wurde sie neugierig auf die vielen Völker, die man in Rouen antraf: Griechen, Friesen, Bretonen, Dänen, Engländer, Schotten und Iren. Manche konnte man nicht von Franken unterscheiden, andere wirkten fremdländisch und wild, und nicht ohne Genugtuung erfuhr sie, dass viele von ihnen nicht getauft waren wie sie und auch in einer christlichen Stadt wie Rouen der alte Glaube lebendig blieb.
    Sie wagte nicht, Runen zu schnitzen, aber nachts, wenn sie wach lag, schrieb sie sie oft in ihre Handinnenfläche, um solcherart Schutz für sich und ihre Schwestern zu erbitten – die Rune Ingwaz, die für Wärme, Heimat und Familienbande stand, oder die Rune Algiz, die vor Feinden schützte und glückliches Gelingen bewirkte.
    Die Runen entfalteten ihre Macht, denn Wevia und Duvelina schienen sich bald heimisch zu fühlen, und sie selbst konnte sich binnen kürzester Zeit blind in Rouen orientieren, im eigentlichen Stadtkern innerhalb der alten Römermauern, aber auch in dem Vorort vor dem zusätzlichen Mauergürtel, an dem in diesen Jahren ebenso eifrig gebaut wurde wie an der Kirche Saint Ouen. So zahlreich war mittlerweile die Bevölkerung der Stadt, erfuhr Gunnora, dass das in der Normandie geerntete Getreide nicht ausreichte, sie zu sättigen, sondern weiteres aus fernen Ländern, vor allem England, gekauft werden musste.
    Anfangs machte sie sich vor, dass sie sich all diese Details merkte, weil das Wissen darob das Überleben einfacher machte, doch mit der Zeit gestand sie sich ein, dass ihr Geist nach all den Jahren im Wald regelrecht ausgehungert war und nach Nahrung gierte. Auch wenn sie sich das Gegenteil eingeredet hatte – ihr wacher Verstand hatte gedarbt, als sie nur dann und wann mit Bauersfrauen sprechen, Runen ritzen oder sich selbst Geschichten erzählen konnte. Etwas in ihr war dabei eingeschlafen, und als es jetzt erwachte, fühlte sie ähnliches Kribbeln, wie es neues Blut in abgeknickten Gliedern bewirkte.
    Nicht länger ging Gunnora wie betäubt ihrer Wege, sondern wähnte sich lebendiger, stärker, selbstbewusster. Wahren Eifer hatte sie früher nur bewiesen, wenn es galt, den Christen zu verfluchen und zu hassen; jetzt zeigte sie ihn, wenn sie feilschte. Früher hatte sie innerlich gebebt, wenn sie Tiere opferte, jetzt, wenn sie Mathildas Lob einheimste. Respekt hatte sie nur als Meisterin der Runen zu verdienen geglaubt, jetzt war es ihr kundiges Auftreten, das ihn ihr verdientermaßen einbrachte. Und während sie früher von Tag zu Tag gelebt hatte, ertappte sie sich nun dabei, wie sie sich immer öfter eine Zukunft in Rouen ausmalte, als würde es ewig so weitergehen.
    Ein wenig schämte sie sich dafür, aber sie konnte sich der Tatsache gegenüber nicht blind stellen, dass auch Wevia und Duvelina davon ausgingen, weiterhin am Hof zu leben. Wevia freute sich jeden Tag aufs Neue über die Annehmlichkeiten, so über eigene Kinderschuhe aus weichstem Leder, wie sie sie noch nie besessen hatte. Duvelina wiederum war hellauf begeistert, als ihr Arvid, Mathildas Mann, eines Tages ein Geschenk machte – einen aus Holz geschnitzten Hund, der gerade zum Sprung ansetzte.
    Gunnora betrachtete ihn verwirrt. »Er sieht so aus wie die Tiere, die mein Vater mir geschnitzt hat«, sagte sie zu Mathilda.
    »Warum klingst du so überrascht? Viele Künste der Nordmänner sind hier lebendig. Wir sprechen fränkisch, aber wir denken immer noch normannisch.«
    »Ihr seid doch Christen!«
    »Mit der Taufe vergisst man nicht, wer man ist und woher man kommt. Mir scheint, du siehst alles schwarz oder weiß, doch in Wahrheit

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