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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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was sie konnte, war, sie ausreichend zu ernähren. Gottlob wuchsen jetzt im Frühsommer Beeren, Pilze und Früchte, und der Mann, mit dem sie unterwegs war und der ihr mittlerweile doch noch seinen Namen verraten hatte, Ulfr, konnte mit einer Steinschleuder jagen.
    Sie überlebten, fanden aus dem Wald heraus und kamen an Dörfern vorbei. Gunnora kannte keinen Menschen, Ulfr hingegen viele. Er sprach mit ihnen, allerdings immer so, dass sie kein Wort verstand und sich hinterher damit begnügen musste, dass er einen neuen Ort nannte, wohin sie gehen sollten.
    Irgendwann erreichten sie das Meer mit dem Strand und den Salzwiesen. Kniehohe, messerscharfe Grashalme wuchsen dort und nur vereinzelt Bäume, die den Blick auf eine Siedlung freigaben.
    Gunnora atmete die salzige Luft ein. Wie in Dänemark waren die Langhäuser durch Wege verbunden, dazwischen standen Grubenhäuser und Ställe. Sie wusste, sie war immer noch in der Fremde, immer noch auf dem Grund, auf dem ihre Eltern ermordet worden waren, aber mit jedem Schritt, den sie machte, wuchs die Überzeugung: Ich komme heim. Ich komme zu meinesgleichen. Ich komme an einen Ort, an dem ich mich nicht länger verstellen muss wie in Rouen.
    Erst jetzt fühlte sie die Schmerzen – im Rücken, an den Fußsohlen, den von Dornen zerkratzten Händen. Erst jetzt wurde sie müde und hungrig.
    »Tragen die Menschen, die dort wohnen, Ketten?«, fragte Wevia.
    »Bestimmt!«
    Bald stellte sich heraus, dass das gelogen war. Die Männer, denen sie begegneten, trugen Rüstungen, Schilde und Helme mit Nasenschutz, aber keinen Schmuck. Anstelle eines gemütlichen Zuhauses erwartete sie eine Garnison.
    Immerhin wurden sie von den vielen Männern, die sie bewachten, nicht aufgehalten. Sie stellten Ulfr zwar viele Fragen, schienen mit dessen Antworten aber zufrieden. Gunnora verstand erneut kein Wort und war erleichtert, als er schließlich verkündete: »Komm mit, ich bringe dich zu Agnarr. Ich habe ihm von dir erzählt, und jetzt will er allein mit dir sprechen.«
    Agnarr war offenbar der Name des Anführers. Als Gunnora eines der Langhäuser betrat, zu dem Ulfr sie gebracht hatte, erblickte sie zunächst nur seinen Rücken. Es stank ranzig nach Fischtran, der Boden war voller Speisereste und Unrat. Ihre Mutter hatte immer dafür gesorgt, dass ihr Haus sauber blieb, doch hier, wo offenbar fast nur Männer lebten, machte sich niemand diese Mühe.
    Der Mann, der Agnarr hieß und der sich jetzt langsam zu ihr umdrehte, war sehr groß, und anders als die anderen Männer trug er, wie Wevia es erhofft hatte, eine Kette. Doch es war keine aus funkelnden Steinen, sondern eine aus schlichtem Leder gemachte, an dem ein Anhänger befestigt war.
    Ein Kreuz …
    Gunnora riss die Augen auf, blickte ihm ins Gesicht, erschrak, blickte zurück auf die Kette. Es war leichter, diesen Anblick zu ertragen, als seine Züge zu studieren und ihn wiederzuerkennen – oder nein, nicht leichter, vielmehr noch unerträglicher. Denn spät, viel zu spät erkannte sie ihren Irrtum.
    Er trug kein Kreuz, er trug Mjöllnir. Thors Hammer. Thors Kraftgürtel verdoppelte seine göttlichen Kräfte, seine eisernen Handschuhe zermalmten Felsen, doch die wichtigste Waffe gegen seine Feinde, vor allem gegen die verhassten Riesen, war sein Hammer. Ein Hammer, der aus der Ferne besehen wie ein Kreuz aussah.
    Jetzt sah sie Agnarr nicht aus der Ferne, jetzt kam er ihr ganz nah. Sie wich zurück, aber sie wusste, dass es keine Fluchtmöglichkeit gab und sie ihm durch eigenes Verschulden schutzlos ausgeliefert war.
    Er war kein Christ, er war ein Sohn des Nordens. Doch er blieb der Mörder ihrer Eltern und ihr schlimmster Feind.

    Gunnora war wie vom Erdboden verschluckt. Überall war nach ihr gesucht worden, auch außerhalb Rouens, aber keiner fand ein Lebenszeichen von ihr oder ihren kleinen Schwestern.
    Alruna war es einerlei, ob man sie an den Hof zurückbrachte oder nicht, ob sie zur Rechenschaft gezogen wurde oder ungestraft blieb. Sie hasste die Frau nur, solange sie in Richards Nähe war – fern von ihm war sie ihr gleichgültig.
    »Dass sie geflohen ist, ist ein Beweis ihrer Schuld«, stellte sie lediglich fest.
    Niemand widersprach ihr. Allerdings freute sich auch niemand darüber. Die anderen Konkubinen gingen rasch zur Tagesordnung über, ihre Mutter hingegen war erschüttert und ihr Vater besorgt. Nicht um Gunnora, sondern um Richard.
    Dieser verkroch sich in sein Turmzimmer, trank viel, sprach wenig und rief keine

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