Meisterin der Runen
Anführer! Du weißt gewiss, wo man ihn trifft. Dann kann ich gemeinsam mit ihm überlegen, wie ich euch in Zukunft helfen kann. Gyrid begleitet uns am besten, sie ist hier so wenig sicher wie wir.«
Während Gunnora sprach, betrachtete sie argwöhnisch die anderen schlafenden Männer, doch keiner war erwacht – offenbar waren sie das Kommen und Gehen zu sehr gewohnt, als davon noch gestört zu werden. Viel schwerer würde es sein, an den Wachtposten im Hof vorbeizukommen.
Der junge Mann schien ihre Gedanken lesen zu können. »Wir müssen zur Metbrauerei«, erklärte er, »von dort aus werden regelmäßig Fässer direkt auf Schiffe verladen, um sie zu den großen Märkten der Normandie zu transportieren. Wenn wir sie unentdeckt erreichen und ein Boot finden, könnte es uns gelingen, Rouen auf der Seine zu verlassen.«
Gunnora nickte und überließ ihm die Führung. Wevia klammerte sich an ihre Hand, Duvelina trug sie weiterhin, anstatt den Mann um Hilfe zu bitten. Wenigstens das war sie den Schwestern schuldig, wenn sie auch alles andere falsch gemacht hatte. Ich hätte sie nie hierher bringen dürfen, dachte sie, ich hätte mich damals im Wald dem Christen stellen sollen und mich von ihm töten lassen. Und als ich das Messer bekam, hätte ich sofort zu Richard gehen und um meiner Schwestern willen die dänischen Aufständischen verraten sollen.
Jenes Messer wog schwer an ihrem Gürtel; sie nahm es ab und reichte es dem jungen Mann.
»Ich brauche es nicht mehr«, erklärte sie.
»Wer weiß«, murmelte der junge Mann. Er nahm es nicht zurück.
»Also gut.«
Sie gab nicht zu, dass sie nie vorgehabt hatte, es zu benutzen. Stundenlang hatte sie darauf gestarrt, die Klinge befühlt, sich an das Gewicht gewöhnt, aber zugleich geahnt: Sie konnte Richard nicht den Tod bringen, nicht auf diese Weise. Unheil bringende Runen zu schnitzen war etwas anderes, aber selbst davor scheute sie sich, und mittlerweile war sie sich nicht sicher, ob das etwas war, das sie stolz machte oder vielmehr beschämte. Sie taugte nicht zum Töten, sie taugte nicht zur Rache, sie taugte nicht, die Schwestern zu schützen, sie taugte zu gar nichts. Wie enttäuscht ihre Eltern wohl von ihr wären!
Immerhin: Es gelang ihnen, den Hof zu überqueren, ohne gesehen zu werden. Sie kamen an den Latrinen vorbei, an den Vorratskammern, an der Backstube.
»Was ist mit Gyrid?«, fragte sie.
»Wir können sie nicht warnen, ansonsten müssten wir zurück zu den Wohnhäusern, doch dort sucht man gewiss als Erstes nach dir.«
Gunnora wusste, er hatte recht. Im Zweifel stellte sie das Leben ihrer Schwestern bereitwillig vor das Gyrids, und doch fühlte sie sich noch schäbiger. Sie hoffte, dass Gyrid sich auch ohne ihre Warnung rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte …
Es war der letzte Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, bevor sie sich einzig darauf konzentrierte, Schritt vor Schritt zu setzen.
Die Brauerei war menschenleer, wenngleich die Fässer in der Dunkelheit wie gedrungene Gestalten wirkten – verzauberten Zwergen gleich, auf die Sonnenlicht gefallen war. Und tatsächlich führte ein kleines Tor direkt zum Fluss, wo einige Boote schaukelten. Sie würden ein Stück weit damit rudern, ehe sie – weit genug von der Stadt entfernt – am Ufer anlegen und zu Fuß weitergehen konnten.
Duvelina schluchzte wieder auf, doch dieses Mal hieß Gunnora sie nicht zu schweigen. »Hab keine Angst, es wird doch alles gut.«
Auch wenn sie alles falsch gemacht hatte, in der Zukunft würde sie die richtigen Entscheidungen treffen, würde alle Kräfte zusammennehmen und den Anführer der Dänen bitten, sie zurück in die Heimat zu bringen. Irgendwie würden sie es dorthin schaffen, irgendwie dort neu anfangen. Und irgendwie würde sie dafür sorgen, dass ihre Eltern sich nicht für ihre Tochter schämen müssten.
Der Wald um Rouen war Freund und Feind zugleich. Ein Freund, weil er so viele Verstecke vor möglichen Verfolgern bot, ein Feind, weil er oft zum Labyrinth wurde, in dem sie sich verirrten. So viele Tage waren sie unterwegs, so viele Nächte froren sie. Irgendwann hörte sie auf, sie zu zählen. Die kleinen Schwestern jammerten, wollten erst zurück nach Rouen und flehten später, sie möge sie wenigstens zu Seinfreda bringen. Kurz erwog Gunnora das tatsächlich, aber wurde von der Angst abgehalten, dass Richards Männer sie dort suchen könnten.
Sie wusste nicht, wie sie die Mädchen trösten und ihnen Zuversicht geben sollte – das Einzige,
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