Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
schien nicht stark genug, sich selbst zu töten, um ihm zuvorzukommen. Nicht mutig genug, nicht todesverachtend genug, nicht … dumm genug.
    Und ich weiß doch, wer du bist, dachte er. Ein Mensch, der sich ans Leben klammert, und ist das Leben noch so besudelt.
    »Wer sagt, dass ich dich töten werde?«, fragte er laut und ließ ihre Haare los. »Zumindest nicht, bevor du um Gnade winselst.«

 
F ÉCAMP
996
    In der Kapelle, die die beiden Mädchen wenig später betraten, befand sich eine Reliquie: eine Ampulle des heiligen Blutes Christi, das einst in einem Feigenbaum angespült worden war und für dessen Aufbewahrung der Vater des Grafen ein Gotteshaus hatte errichten lassen.
    Agnes hatte sich oft überlegt, wie das Blut in der Ampulle aussehen würde, ob es noch von frischem Rot war, weil es schließlich aus den Adern des Erlösers stammte, oder längst schwarz verkrustet wie auf ihren Kniewunden, wenn sie wieder einmal zu wild gespielt hatte. In jedem Fall hatte es ihr bis jetzt mehr Angst als Respekt eingeflößt, das Blut Christi in unmittelbarer Nähe zu wissen.
    Heute waren es allerdings die Schriften mit den merkwürdigen Zeichen, die sie erschaudern ließen. Eben zog Emma sie hervor und zeigte sie einer älteren Frau, die sie, wie erwartet, in der Kapelle angetroffen hatten. Wevia war Tag und Nacht hier zu finden. Seit Jahren litt sie an entsetzlichen Kreuzschmerzen, und so kniete sie stundenlang im Gebet versunken und flehte um Linderung. Agnes wusste natürlich, dass Gott manchmal gnädig war und Menschen vom schlimmsten Übel erlösen konnte, und wenn nicht Er selbst eingriff, so zumindest die Mutter Gottes oder die Heiligen. Doch manchmal konnte sie sich des Verdachts nicht erwehren, dass Wevias Kreuzschmerzen sofort nachlassen würden, wenn sie nur etwas weniger kniete.
    Trotz der steten Schmerzen war Wevia ein freundlicher Mensch. Sie lächelte immer, wenn sie die Mädchen sah, auch heute, und zwinkerte ihnen vertraulich zu. Und trotz ihres hohen Alters, das viele Menschen dazu bringt, die Eitelkeit abzulegen, war sie reich geschmückt. Agnes kannte niemanden, der so viele Ketten, Ringe und Armreifen trug wie Wevia. Als sie sich erhob, ertönte ob des vielen Schmucks ein Klirren, als wäre sie bewaffnet.
    Einmal hatte sie Agnes eine Kette geschenkt, doch diese wagte sie nicht zu tragen, aus Angst, etwas so Kostbares zu verlieren. Solche Furcht schien Wevia nicht zu kennen, etwas anderes hingegen vermochte durchaus Entsetzen bei ihr auszulösen. Als Emma grußlos die Schriften hob, sie ihr vor die Nase hielt und Wevia erkannte, was da stand, schwand ihr Lächeln, und sie erbleichte. Sie hatte eine Weile dafür gebraucht, denn das Licht war trüb, und ihre Augen waren nicht mehr die besten, doch danach schlug sie sich umso heftiger die Hand vor den Mund.
    »Woher habt ihr das, Mädchen?«, fragte sie, als sie die Hand wieder von den Lippen löste.
    Mehrmals bekreuzigte sie sich. Obwohl Wevia ein Kind von Heiden und erst spät getauft worden war, galt sie als sehr fromm. Nicht nur, dass sie so oft in der Kapelle betete – überdies erzählte sie den Kindern gern Geschichten, um ihnen christliche Tugenden einzubläuen. Agnes konnte sich gut an das Los einer gewissen Maria erinnern, das Wevia ihr eindringlich vor Augen gehalten hatte: Jene beschwerte sich so oft, dass ihr Mann häufig großzügige Spenden an ein Kloster verteilte, bis ihre Zunge, mit der sie gegen Gott und den Ehemann wetterte, immer länger wurde, sich schließlich teilte und an den Ohren festwuchs. In ihrer Verzweiflung reiste sie nach Fécamp, flehte in der Kirche um Erlösung und wurde, einsichtig, wie sie sich zeigte, von Gott erhört. Künftig trieb sie den Mann zu noch viel großzügigeren Geschenken an die Kirche an. Wevias Geschichten sollten den Kindern Angst machen, aber in Wahrheit konnte sich Agnes beim Zuhören das Kichern kaum verkneifen.
    An diesem Tag war ihr allerdings nicht nach Lachen zumute.
    »Kannst du diese … Runen lesen?«, fragte sie aufgeregt.
    »Meine Mutter konnte es und Gunnora auch«, flüsterte Wevia. Ob das auch für sie galt, sagte sie nicht.
    Emma deutete auf jene Zeichen, die sich mehrmals wiederholten. »Das hier ist doch ein Name, oder?«
    Wevia starrte lange darauf.
    »Was steht da?«, fragte Agnes, als sie das Schweigen nicht länger ertrug. »Sind es Flüche? Wird dieser Mensch verflucht?«
    Wevia schüttelte den Kopf und wurde immer bleicher. »O mein Gott! Niemand darf wissen, was hier

Weitere Kostenlose Bücher