Meisterin der Runen
geschrieben steht! Wir müssen diese Schriften verstecken, wo sie keiner zu Gesicht bekommt, und ihr dürft nie wieder davon sprechen, versteht ihr mich?«
Hilfe suchend starrte sie die Mädchen an. Wevia wirkte so verzweifelt, dass Agnes am liebsten genickt und ihr beteuert hätte, dass sie und Emma ihr helfen würden, das Geheimnis zu vertuschen, ganz gleich, wie groß ihre Neugier war. Doch sie wusste natürlich, dass sie der Frau diesen Gefallen nicht tun konnten. Verstecken, verschweigen, vertuschen – all das schien zu nicht genug, um der beiden Mönche Herr zu werden.
Emma war es schließlich, die diese Tatsache mitleidslos aussprach. »Ich fürchte, das wird nichts nützen. Bruder Remi und Bruder Ouen wissen um diese Schriften. Was … was steht denn nun hier geschrieben, was niemand erfahren darf?«
VIII.
965
Er erwies sich als geduldig, stürzte sich nicht auf sie, sondern ließ sie in eine Hütte bringen, klein, niedrig, dunkel und mit einem Schloss an der Tür, die hinter ihr versperrt wurde. Gunnora war allein. Sie lugte durch Ritzen nach draußen, erkannte erst wenig, dann ein paar Männer, die mit schweren Waffen auf und ab gingen, jedoch nirgendwo ihre Schwestern.
Sie sorgte sich um sie und war zugleich erleichtert, sie nicht weinen zu hören. Das hätte sie nicht ertragen, das hätte sie endgültig zusammenbrechen lassen, erstaunlich schon, dass ihr Herz noch schlug nach allem, was sie erfahren hatte.
Ein Nordmann hatte ihre Eltern auf dem Gewissen. Ein Mann, der ihren Glauben an die Götter teilte und ihre Bräuche am Leben erhielt, der Richard hasste und vertreiben wollte. Gunnora schloss die Augen. Die Wahrheit war ein Schwert, das in Stücke hieb, was immer ihm zu nahe kam: den Trotz, mit dem sie an den alten Traditionen festgehalten hatte, die Verachtung, die sie für Richard empfunden hatte, die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.
Was blieb noch von ihr übrig, nachdem dieses Schwert gewütet hatte?
Es war genug, um die Augen wieder zu öffnen, unruhig auf und ab zu gehen, die Hände zu reiben, sich verzweifelt einen Ausweg zu überlegen. Genug auch, um leben und die Schwestern retten zu wollen.
Doch Wollen und Können waren zweierlei. Unmöglich schien es, aus dieser Hütte zu fliehen, unmöglich, all den Kriegern zu entkommen, schon gar nicht jetzt, am helllichten Tag, aber auch nicht bei Nacht.
Gunnora blieb stehen, hockte sich dann auf den Boden, schrieb wieder und wieder die Rune Eihwaz, die Todesrune, in die Erde und daneben Agnarrs Namen. Ob sie wirkte, wenn sie nicht aus dem Holz der Eibe geschnitzt wurde? Vor allem aber: Ob sie wirkte, nun, da sie an allem zweifelte?
Sie stand wieder auf, beachtete die Rune nicht weiter. Eine andere tat es umso mehr – eine junge Frau, die unter den Kriegern lebte und am Abend zu ihr kam, um ihr eine Schüssel Brei und Ziegenmilch zu bringen. Sie sah Gunnora nicht an, sondern hielt den Blick auf den Boden gerichtet, doch als das Dämmerlicht auf die Runen fiel, erschrak sie, ließ die Schüsseln fallen und lief nach draußen.
Gunnora starrte auf den Brei, der auf den Boden geflossen war, gefährlich nahe bei den tödlichen Runen. Ob sie ihn wohl vergiften würden?
Sie beugte sich hinunter, kratzte den Brei vom Boden und verschlang ihn mitsamt den Erdkrümelchen. Sie musste bei Kräften bleiben, und sie wusste ja auch: Nichts vergiftet so sehr wie Hass, und dass sie diesen Hass seit Jahren auf den Falschen gerichtet hatte, änderte nichts an seiner Heftigkeit. Irgendwie musste sie sich ihn zunutze machen, um am Leben zu bleiben.
Sie hatte noch nicht fertig gegessen, als wieder Dämmerlicht auf die Rune fiel. Wer immer die Hütte betreten hatte, blieb vor ihr stehen. Gunnora hielt ihren Blick starr auf den Boden gerichtet, war sicher, dass Agnarr sie musterte, und wollte ihm nicht zeigen, wie sich ihr Körper verspannte. Doch als nichts geschah, hob sie den Kopf. Eine alte Frau stand vor ihr, einen glimmenden Span in der Hand. Im Luftzug tanzte ihr weißes, offenes Haar. Sie trug keine Kopfbedeckung wie sonst die alten Frauen, und auch ihr Blick war jung, desgleichen lodernd und bösartig.
»Du kennst die Runen?«
Gunnora trotzte ihrem Blick. »Wer bist du?«
Die Alte schloss die Tür hinter sich. »Aegla. Agnarrs Mutter. Ich wollte sehen, welche Frau meinen Sohn verhext hat.«
Die Worte erschienen Gunnora widersinnig. Nie hatte sie sich so ohnmächtig gefühlt. Nie ihren Runenzauber als so wirkungslos angesehen. Doch Aegla schien
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