Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
ab, was ihm so einfiel, Gott, das Schicksal und den Zufall. Er probierte das Was-wäre-wenn-Spiel aus und fragte sich, wer oder was ihn vor einigen Stunden dazu bewogen hatte, seinen Flug nach Mannheim spontan gegen einen nach Amsterdam auszutauschen. Er hatte so etwas vorher nie getan. Im Nachhinein erschien ihm dieser plötzliche Sinneswandel wie ein riesiges Rätsel, womöglich noch unwahrscheinlicher und unfassbarer als die Katastrophe selbst.
Alles zusammen, seine nicht nachvollziehbare Entscheidung und der Absturz (mitten auf ein Auto), dazu noch die Bemerkung der Blondine über das, was sie angeblich mit ihrem Handy anstellte, bildete ein regelrechtes Loch in der Wirklichkeit. Was er erlebt hatte, war mehr als nur unwahrscheinlich.
Es war phantastisch.
Was er mit Falkengrund erlebt hatte, formte das Tüpfelchen auf dem i. Die Schule des Okkulten, die er mitsamt ihren Schülern und Dozenten für rein fiktiv gehalten hatte, existierte.
Irgendwie musste das alles zusammenhängen. Falkengrund, der Flug nach Amsterdam auf Sir Darrens Spuren, dann der Absturz unter merkwürdigen Umständen. Drei unerklärliche Rätsel – man konnte gar nicht anders, als sie zu einem einzigen großen Geheimnis zusammenzufügen.
Wie passten sie ineinander? Wo fingen sie an, sich gegenseitig zu erklären? Würde am Ende etwas dabei herauskommen, was ein altes Wissenschaftlergehirn notfalls verkraften konnte, oder würde sich die Summe der phantastischen Einzelteile nur als noch phantastischer erweisen?
Während seine Füße mechanisch durch die leicht moorigen Wiesen stapften, nahm in seinem Kopf langsam ein Gedanke Form an, ein Gedanke, der, wie ihm mit einem Schaudern klarwurde, den bizarren übersinnlichen Räuberpistolen dieser Falkengrund-Serie alle Ehre gemacht hätte: In der Geschichte „80 Tage in den Tod“ war Sir Darren zwar in Amsterdam gelandet, aber Amsterdam war keineswegs sein vorhergeplantes Reiseziel gewesen. Der Dozent für Spiritismus hatte sich auf dem Weg nach London befunden, als ihn auf dem Flughafen Schiphol ein Unbekannter umstieß, worauf er sich den Kopf anschlug, das Bewusstsein verlor und seinen Anschlussflug verpasste.
Gebhard Schlier hatte das Flugzeug mit dem Ziel bestiegen, Amsterdam zu erreichen. Doch wie schon Sir Darren in der Episode hatte auch er sein geplantes Reiseziel nicht erreicht. Und ihm war sogar noch Dramatischeres widerfahren als das, was sich der gute Clauß für seinen eBook-Schmöker hatte einfallen lassen. In seinem Fall hatte gleich ein ganzes Flugzeug dran glauben müssen. Plus ein Auto. Eine Menge Aufwand, um einen unbedeutenden Heidelberger Literaturprofessor in die ostfriesische Pampa zu schicken!
Bei diesen Gedankengängen wurde es Schlier heiß und kalt. Hätte er bei seinem Hauruck-Entschluss in Berlin Tegel, bei dem er sich frei gefühlt hatte wie ein Adler über dem Grand Canyon, auch nur eine Sekunde lang in Erwägung gezogen, dass er sich tatsächlich in Sir Darrens Fußstapfen bewegte, dann hätte ihm aufgehen müssen, dass er dabei womöglich ebenso wenig frei sein würde wie dieser. Dass auch hier höhere Mächte menschliche Schritte lenkten.
Aber das eine war eine Fiktion, das andere die Realität. Wie brachte man Fiktion und Realität unter einen Hut, ohne dass es wehtat?
Den Schriftstellern fiel das nicht schwer: Sir Darren hatte bei seinem Trip um die Welt einfach Sagen, Kurzgeschichten und Balladen bereist, wie man fremde Länder bereiste. So etwas gab es in der Fantasy-Literatur öfter – das bekannteste Beispiel war Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie.
In der Realität, das war unbestritten, kamen diese Dinge eher nicht vor. Jedenfalls konnte Schlier sich nicht erinnern, jemals in der Rhein-Neckar-Zeitung über solche Fälle gelesen zu haben …
Damit hätte er den Gedanken vom Tisch fegen können. Zumal nichts an der Situation, in der er sich gerade befand, ihn an ein Stück Literatur erinnerte. Gewiss, Flugzeugabstürze gab es in Romanen häufiger als in der Wirklichkeit, unwahrscheinliche Katastrophen auch, aber an diesem federnden Wiesenboden, an diesem dunkler werdenden Himmel und an seinen nervtötenden Nackenschmerzen war nichts, aber auch gar nichts Literarisches. Falls er gerade durch ein Buch stapfte, dann durch eines, das er lieber nicht lesen wollte. Das Zeug zum Bestseller hatte es jedenfalls nicht.
„Wir sind da!“, rief Lentje.
Er hatte sich ein wenig zurückfallen lassen und schloss jetzt wieder zu ihr auf. Die Stewardess, die
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