Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
sich mit ihren hohen Schuhen auf dem weichen Untergrund tapfer schlug, war an einem Holzzaun angelangt und dort stehengeblieben. In den letzten Minuten war die Sonne untergangen, und ein weißer Halbmond schälte sich immer klarer heraus. Zerrissene Wolkenflächen färbten sich dunkelblau.
Hinter dem Zaun gab es noch mehr Gras, eine Pferdekoppel vielleicht, zur Rechten lagen mehrere Scheunen, zur Linken ein langer, niedriger Schatten, vermutlich ein Wohnhaus. Unweit davon stand ein kleiner Lieferwagen.
„Über den Zaun?“, brummte Schlier.
„Aber ja doch! Oder möchtest du noch einen Kilometer außen rum gehen, Gebhard? Komm, ich helf dir …“ Sie duzte ihn jetzt, und es störte ihn nicht.
Der Zaun schwankte, knarrte unter dem unbeweglichen Akademiker. Schlier legte sich schon eine Entschuldigung für den Fall zurecht, dass er den Zaun liefern würde, doch stattdessen stürzte er ins Gras und musste sich von Lentje auslachen lassen. „Soll ich dem Herrn vielleicht irgendwelche Erfrischungen reichen?“, witzelte sie, als sie sich über ihn beugte. Aber dann half sie ihm doch auf.
„Ich verstehe nicht, warum immer noch kein Martinshorn zu hören ist“, meinte er stirnrunzelnd. „Wir waren fast eine halbe Stunde unterwegs. Mein Gott, die Leute im Flugzeug – falls Überlebende darunter sind …“
„Ja, seltsam“, nickte Lentje. „Aber in einer Minute haben wir ein Telefon. Sieh mal, wir gehen da drüben durch, zwischen dem Geräteschuppen und dem Auto. Das muss der kürzeste Weg zum Haus sein.“
„Aber es brennt kein Licht. Was tun wir, wenn niemand zu Hause ist?“ War Einbrechen eine Option?
„Keine Sorge. Die Leute hier beleuchten nicht gleich das ganze Terrain, wenn es ein bisschen dämmrig wird. Die sitzen bei einer heißen Tasse Tee im Halbdunkel und hängen schweigend ihren Gedanken nach.“
„Ist das nicht nur ein Klischee?“
Darauf antwortete sie nichts. Sie erreichten den Lieferwagen, und Lentje blieb plötzlich stehen. „Moment, da ist jemand. – Moin moin, nicht erschrecken, junger Mann!“
Der ‚junge Mann‘ war ein blau gekleideter Bauer von mindestens achtzig Jahren. Er ging gebeugt und trug einen Benzinkanister. Offenbar war er gerade im Begriff gewesen, den Wagen zu betanken. Von Erschrecken keine Spur – er blickte den beiden Fremden, die unvermittelt auf seinem Grundstück aufgetaucht waren, gelassen entgegen. Immerhin fragte er: „Wo kommt ihr denn her, Kinders?“
Es lag schon eine Weile zurück, dass Gebhard Schlier ‚Kind‘ genannt worden war. Er wollte etwas erwidern, doch Lentje antwortete für ihn: „Über die Wiese.“
„Jau, das ist wohl so“, meinte der Alte und schien mit der Antwort vollauf zufrieden. „Dann kommt mal rein auf ‘ne Tasse.“ Er setzte den Kanister ab und schraubte den Verschluss auf.
Lentje half ihm dabei. „Ehrlich gesagt müssten wir schnell mal bei dir telefonieren. Geht das?“
„Telefonieren?“ Der Alte kniff die Augen zusammen. „Hast du kein Handy?“
„Im Flugzeug liegenlassen“, entgegnete Lentje.
„Und meins ist beim Absturz kaputtgegangen“, fügte Gebhard hinzu, als der Blick ihn erreichte. Ihm war bewusst, wie zusammenhanglos und unverständlich die Bemerkung klingen musste, aber er wollte sehen, wie der Landwirt reagierte.
„So ist das also“, antwortete dieser nur. „Dann man rein mit euch, ihr Schussel. Dass ihr mir nächstes Mal aber besser auf euer Zeug aufpasst!“
Der Alte führte sie ins Haus, und Gebhard registrierte am Rande, dass der Mann den Kanister einfach stehenließ, ohne ihn zuzuschrauben. Das Haus war nicht mehr das frischeste: Das Rot der Ziegelsteine war dunkel und schmutzig geworden, von der weißen Haustür blätterte der Lack. Neben dem Eingang lag eine getigerte Katze und regte sich nicht. Offenbar schlief sie sehr tief, was Gebhard, der selbst schon zwei Katzen gehabt hatte, merkwürdig vorkam. Sie hatte eine unnatürliche Seitenlage eingenommen und wirkte wie tot. Krabbelte da nicht ein Käfer über ihren Bauch?
Es fiel ihm schwer, den Blick von dem Tier abzuwenden, doch der Bauer schob sie beide vor sich her in das zwielichtige Innere des Hauses. „Antje!“, rief er mit brüchiger Stimme. „Wir haben Gäste!“
„Nein, nein, wir gehen gleich wieder“, beeilte sich Gebhard zu sagen. „Wir müssten nur kurz die Polizei informieren und …“
„Die Polizei?“, unterbrach der Alte. Sein faltiges Gesicht unter der blauen Mütze veränderte sich für einen Moment,
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