Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
bernsteinfarbenen Schwarztee im Glas, dazu ein paar Stückchen Kandis, die man hier Kluntjes nannte. Das hatte man ihm fürsorglich erklärt. Doch alle Versuche, ihn in die seltsam einträchtige Gemeinschaft zu integrieren, machten alles nur noch schlimmer. Diese Welt war ihm fremd, und sie wurde ihm jeden Augenblick fremder.
Nach ein paar endlosen Minuten, in denen es ihm immer schwerer fiel, sich auf die belanglose Konversation zu konzentrieren, fasste er den Entschluss, nicht länger zu warten. Ohne auch nur an seinem Tee genippt zu haben, ließ er sich von Antje den Weg zur Toilette zeigen. Auf dem stillen Örtchen wartete er eine halbe Minute, schlich sich dann vorsichtig heraus und durch den Flur in Richtung Haustür. Da sie geschlossen war, drückte er so lautlos wie möglich die Klinke herab.
Beinahe hätte er geflucht. Die Tür war abgeschlossen, und kein Schlüssel steckte im Schloss! Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass hier nichts war, wie es sein sollte, dass man irgendetwas Krummes im Schilde führte – da hatte er ihn!
Aber so leicht gab er nicht auf. Das Haus schien weitläufig zu sein. Wenn es keine Hintertür gab, dann wenigstens ein Fenster, das sich öffnen oder notfalls zerschlagen ließ. Er nahm die nächste Tür links und erreichte eine Art Bügelzimmer, an das sich ein weiterer Raum reihte. Dieser entpuppte sich als Schlafzimmer.
Und als Ort des Schreckens.
Am Fußende der Ehebetten lagen zwei Katzen und zwei Hunde, Yorkshire-Terrier. Alle vier waren sie tot, das erkannte man auf den ersten Blick. Bei einem der Hunde hatte die Verwesung schon eingesetzt, und es roch unerträglich. Vor dem Bett auf dem Fußboden lagen noch einige kleinere Tiere. Ein Hamster, mehrere Vögel.
Wenigstens gab es ein Fenster. Mit von Ekel verzerrtem Gesicht suchte Gebhard Schlier Stellen, an denen er seine Füße zwischen die Tierkadaver setzen konnte. Er blendete den Horror aus, so gut es ging, packte den Griff des Fensters und drehte ihn. Ihn zu drehen war kein Problem, doch das Fenster öffnete sich trotzdem nicht. Erst jetzt fiel dem Professor auf, dass es oben und unten mit langen Latten vernagelt war! Als er mit aller Kraft an dem Griff zog, knackte es, und er schöpfte neue Hoffnung, das Fenster mit roher Gewalt doch noch aufzubekommen.
„Sie sagen immer wieder, man soll Haustiere nicht küssen“, klang hinter ihm eine Stimme auf. Ohne seine verzweifelten Bemühungen zu unterbrechen, drehte Schlier den Kopf. Der alte Eike stand in der Tür. „Durch die Küsserei können sich Krankheiten übertragen. Aber meine Frau, die Antje, die kann es einfach nicht lassen.“
Gebhard gefror das Blut in den Adern, als der Bauer einen Schritt zur Seite ging und für die beiden anderen Platz machte, die hinter ihm kamen. Antje und Lentje. Die dicke Bäuerin musste die Stewardess stützen, denn anscheinend hatte diese kaum mehr die Kraft zu gehen. Irgendetwas musste ihr zugestoßen sein. Ihr Gesicht war fahl geworden, ihre Augen schmal.
„Lentje!“, rief der Professor. „Was ist mit dir los? Du warst doch gerade eben noch …“
Dann begann er zu verstehen. Die Küsse. Antjes tödliche Küsse. Nicht nur die Tiere verendeten daran, auch für Menschen hatte der Kontakt mit ihren Lippen, mit ihrem Speichel, offenbar fatale Folgen.
Antje hievte die kraftlose Stewardess ins Zimmer und warf sie mit einem pietätlosen „Hauruck!“ auf das Bett. Ihre Beine bettete sie umso liebevoller neben den verwesenden Hund. „Es ist nur ein Witz“, keuchte Lentje. „Keine Sorge, Gebhard … nur ein Witz … Du kennst das doch … Der Lehrer sagt … man soll Haustiere nicht … nicht küssen … darauf … meldet sich ein Kind ... und sagt … ich weiß … meine Tante hat auch immer ihren … Hund geküsst … und … und dann ist … der Hund … der Hund ist … einge … einge …“
Für einen Moment erwog Gebhard, die beiden Bauern zur Seite zu stoßen und aus dem Raum zu fliehen. Doch bestimmt waren die übrigen Fenster des Hauses ebenso verriegelt wie dieses. Er legte seine gesamte Kraft, seine und die der armen Lentje, in einen einzigen brachialen Ruck. Und er hatte Erfolg! Die Latten, die das Fenster fixierten, barsten mit einem lauten Knall wie aus einer Pistole. Die Fensterflügel flogen auf.
Nun kam es auf jede Sekunde an. Das Fenster war nicht riesig, würde ihn aber durchlassen. Der erste Versuch, sich mit einem Sprung auf die Höhe des Fensterbretts zu bringen, misslang. Seine Hüfte machte nicht
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