Melina und das Geheimnis aus Stein
„Es gibt aber Suppe“, kann ich ihn noch antworten hören, dann fällt die Haustür hinter den beiden zu.
„Wer hätte das gedacht!“, sagt Pippa erstaunt. „Maik ist ein richtig cooler großer Bruder.“
„Na und?“, knurre ich. „Mein Herbarium hat er trotzdem geklaut. Aber jetzt wissen wir, wo er wohnt. Und morgen früh vor der Schule … da holt Will es für mich zurück.“
Trotzdem habe ich ein komisches Gefühl, als wir zum Friedhof laufen. Ich wünschte, Maik hätte seinen kleinen Bruder angeschnauzt oder würde wirklich den armen Flecki zum Mittagessen grillen.
Hubertus hat Wort gehalten: Will ist wieder heil. Nur eine weiße Linie an der Bruchstelle erinnert noch an den Fußballunfall. Nachdem ich meine Statue aufgeweckt habe, kann ich sehen, dass Will seinen Arm ganz normal bewegen kann. Dann kann er auch kämpfen. Schließlich hat Rabbi Löw den Golem auch gegen seine Feinde eingesetzt.
„Will, ich habe ein Problem. Möchtest du mir helfen?“, frage ich.
„Ja“, antwortet Will ohne das geringste Zögern.
„Siehst du?“, sage ich zu Pippa. „Natürlich hilft er mir!“
„Erzähle ihm doch erst mal, worum es geht“, widerspricht Pippa. „Wenn er keine Ahnung hat, kann er das doch gar nicht richtig entscheiden.“ Will blickt zwischen Pippa und mir hin und her, verwirrt von unserem Streit.
„Also gut. Da ist ein Junge“, erkläre ich widerstrebend. „Der hat etwas, was mir gehört.“
Wills Gesicht hellt sich auf. „Ah, ein Geschenk!“, stellt er fest.
„Nein, Will, kein Geschenk! Ich hab es ihm nicht freiwillig gegeben. Der Junge hat es sich einfach genommen.“
„Aber erst, nachdem Melina ihm seine Jeans …“, plappert Pippa und ich stecke sie schnell in meine Hosentasche. Die Vorgeschichte ist zu kompliziert, die würde Will nur durcheinanderbringen. Und eigentlich ist es doch ganz einfach.
„Maik hat mein Herbarium gestohlen“, sage ich und schaue in Wills Augen, die blau und offen sind wie der Himmel an einem sonnigen Herbsttag. „Stehlen ist“, komme ich seiner Frage zuvor, „wenn dir jemand etwas wegnimmt, was dir gehört. Erinnerst du dich an das Buch, für das wir die Blätter gesammelt haben? Morgen musst du mir helfen, es wieder zurückzubekommen!“
Noch nie habe ich Will so früh aufgeweckt. Pippa und ich mussten sogar heimlich über die Mauer klettern, weil der Friedhof seine Tore erst um neun Uhr öffnet.
„Beeil dich!“, dränge ich und helfe Will in seinen Mantel. Aber er ist abgelenkt. „Warum sehen die Blätter aus wie Steine?“, fragt er und hebt behutsam ein Blatt hoch. Es ist von Raureif überzogen wie von einer Schicht Salz.
„Das kommt daher, dass es bald Winter wird“, erkläre ich ungeduldig und schaue auf meine Uhr. „Und jetzt frag bitte nicht, was Winter ist, wir müssen nämlich los!“
Wenn wir Maik nicht zu Hause abpassen, kann ich das Herbarium vergessen.
Wills Flipflops schlappen eilig neben mir her. Ich führe ihn zu der Stelle, wo ein paar Steine aus der Mauer gebrochen sind und man leichter rüberklettern kann.
Schneller als ich blinzeln kann, sitzt Will oben auf der Mauer und streckt mir die Hand entgegen, um mir hochzuhelfen. Ich greife danach. Kein Zweifel: Wills Haut ist warm.
Weil sich eine warme Hand an einem kalten und aufregenden Morgen gut anfühlt, halte ich sie fest, auch als wir schon auf der anderen Seite der Mauer sind. Erst als Will und ich hinter der Hecke von Maiks Vorgarten kauern, lasse ich seine Hand los.
„Jetzt müssen wir das Haus beobachten“, erkläre ich Will. „Dabei ist es wichtig, dass wir uns unauffällig – aua!“
Ich unterdrücke einen Aufschrei, als es kräftig an meiner Kopfhaut ziept. „Verflixt, Pippa!“, zische ich. „Hör auf damit, du lässt noch unsere Tarnung auffliegen!“
„Oh, tut mir leid“, sagt Pippa, aber es klingt nicht besonders ehrlich. Sie hat eine meiner Haarsträhnen um sich gewickelt wie eine warme Decke und schmollt. Ich weiß, sie findet es falsch, dass ich Will in die Sache mit dem Herbarium hineinziehe.
„Vielleicht ist Maik schon weg“, flüstert Pippa hoffnungsvoll. Aber in diesem Moment geht die Haustür auf und ein verschlafen wirkender Maik tritt nach draußen. „Tschüss, bis später!“, ruft er und trottet den Weg entlang auf uns zu.
Ich beiße die Zähne zusammen, als Pippa mich noch mal an den Haaren zieht. „Das ist falsch, Melina!“, zetert sie. „Du weißt, dass das falsch ist!“
Aber selbst wenn es falsch ist, jetzt
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