Melina und das Geheimnis aus Stein
ist es zu spät.
Maik blinzelt erstaunt, als ich mit Will im Schlepptau vor ihm auf den Weg trete. „Was willst DU denn hier?“, fragt er mich.
Er ragt vor mir auf wie ein Riese. Es fällt mir schwer, nicht zurückzuweichen.
„Wir wollen das Herbarium, das du mir gestohlen hast!“, sage ich. „Wenn du es zurückgibst, passiert dir nichts.“ Als ich das gestern in meinem Zimmer geübt habe, meinte Pippa, es würde sich richtig bedrohlich anhören. Da hat meine Stimme aber auch nicht so gewackelt.
Maik fängt an zu lachen. „Das soll wohl ein Witz sein!“
„Wer sind die, Maik?“, fragt eine helle Stimme. Maiks kleiner Bruder steht plötzlich neben ihm. Anscheinend hat er sich auf Socken aus dem Haus geschlichen.
Immer noch grinsend zeigt Maik auf mich. „Tim, das ist Melina-Pippina aus meiner Schule.“
„Melina-Pippina!“ Tim muss über den komischen Namen kichern. Je mehr sein kleiner Bruder kichert, desto mehr plustert Maik sich auf: „Und der da neben ihr – ja, wer ist die Witzfigur überhaupt?“
Ich drücke den Rücken durch, stemme die Hände in die Hüften und die Beine fest in die Erde. „Das ist mein Cousin aus Lappland. Die Leute da trinken jeden Morgen eine Flasche Lebertran. Die haben Bärenkräfte“, behaupte ich. „Wenn ich es ihm sage, haut Will dich zu Mus.“
Will öffnet gerade den Mund, wahrscheinlich, um zu fragen, was Mus ist. Da schubst Maik ihn. Will wankt, fällt aber nicht hin.
„Glaubst du, dass der hier mich zu Mus schlagen kann, Tim?“, fragt Maik seinen kleinen Bruder.
„Nee!“, juchzt der kleine Rotzlöffel.
„Los, zeig doch mal, was du drauf hast!“ Maik reißt die Fäuste hoch und tänzelt vor Will hin und her wie ein Boxer. Maiks kleiner Bruder ballt ebenfalls die Fäuste und tänzelt.
Will steht einfach nur da und starrt die beiden verwirrt an.
„Ich hab’s doch gesagt, das war keine gute Idee!“, piepst Pippa an meinem Ohr. „Ich hoffe, du hast eine Plastiktüte dabei, um Wills Körperteile einzusammeln!“
In dem Moment saust Maiks Faust vor und trifft Will hart über der Brust. Ich kneife die Augen zusammen, aber den Schrei höre ich trotzdem noch.
Vorsichtig mache ich die Augen wieder auf.
Maik krümmt sich vor Schmerz. Die Haut an seinen Knöcheln ist aufgeplatzt. Blut tropft auf die Erde.
„Hart … hart wie Stein!“, murmelt Maik, die verletzte Hand an die Brust gepresst. Einen Moment sieht sein Gesicht fast so jung und erschrocken aus wie das seines kleinen Bruders. „Was … was bist du denn für ein Freak?“, stammelt Maik. „Und warum trägst du meine Jeans?!“
„Ich bin Will“, antwortet Will. Er tritt einen Schritt vor und streckt die Hand aus. Ich habe ihm beigebracht, dass man sich zur Begrüßung die Hände schüttelt, wenn man neue Leute kennenlernt.
Als Will sich bewegt, heult Tim los wie eine Sirene. Maik schiebt ihn schützend hinter sich. Die tun ja gerade so, als wären wir hier die Bösen!
„Okay, okay! Ihr kriegt das verdammte Herbarium!“, ruft Maik und hebt die Hände, als würde er sich ergeben. „Aber haltet den Kleinen da raus. Er hat nichts damit zu tun.“
Hektisch kramt Maik in seinem Schulrucksack. Dann zieht er das Herbarium zwischen seinen Heften hervor und legt es zwischen uns auf den Weg. „Hier … hier ist es. Und jetzt lasst uns in Ruhe, ihr Freaks!“
Trotz seiner verletzten Hand hebt Maik seinen weinenden Bruder hoch. Tim klammert sich an ihn wie ein Äffchen. So trägt Maik ihn zum Haus zurück. Zuerst versucht er noch langsam zu gehen, aber dann werden seine Schritte schneller und schneller. Verblüfft beobachte ich seine Flucht.
„Maik hat Angst vor dir“, flüstert Pippa.
Das ist ein komisches Gefühl. Ich fühle mich groß und stark wie ein Riese. Gleichzeitig wünsche ich mir, ich wäre so klein wie Pippa und niemand könnte mich sehen. Dann müsste ich den Blick nicht ertragen, den Tim mir über die Schulter seines Bruders hinweg zuwirft.
Plötzlich muss ich an meinen eigenen Bruder denken. Ob Jonas wohl auch immer heimlich in Socken aus dem Haus gelaufen wäre, wenn er die Chance bekommen hätte, vier zu werden? Hätte er mich auch so angehimmelt wie Tim seinen großen Bruder? Was würde er wohl jetzt von mir halten?
Die Tür fällt hinter den Brüdern zu und schneidet Tims Blick ab.
Ich drücke mein zurückerobertes Herbarium fest an mich. In der dritten Stunde haben wir Bio. Bis dahin muss ich unbedingt in der Schule sein, um es abzugeben. Aber vorher muss ich
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