Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
nicht, dass seine geliebte Fürstin zu den Ahnen gegangen ist?“. „Herr“, so sprach der Kanzler, „gewiss teilen die einfachen Menschen Eures Landes die Trauer in Eurem gebrochenen Herzen. Doch sie hungern und darben auch. Das Glück hat dieses Land vor acht Jahren mit der Fürstin verlassen, und die Not wird größer und größer. Sie brauchen Eure Hilfe!“ Der Fürst dachte kurz nach. Dann schloss er ermattet seine Augen und sprach: „Ich kann mir nicht mal selbst helfen.“ Dann hüllte er sich in Schweigen.
Armer Fürst, dachte ich. Dir muss wirklich geholfen werden. Helfen, das war das Stichwort, welches mich aus meiner Schreibtrance riss. Meiner Mutter musste geholfen werden! Ich konnte das nicht länger wegschieben. Sie hatte doch neulich wirklich felsenfest behauptet, mein Bruder Benito, ihr erstgeborenes Kind, dessen kurze Existenz sie jahrzehntelang verschwiegen hatte, wäre zu ihr zu Besuch gekommen. Und überhaupt würde er sich mehr um sie kümmern als ich. Großer Gott, meine Mutter verlor ihren Verstand! Ich musste dieser Tatsache ins Auge sehen. Tante Ursula war leider längst verstorben, sie konnte ich nicht mehr fragen, wie schlimm es wohl wirklich sei. Aber Walther, mein lieber, skurriler, hypochondrischer Onkel lebte in Mutters Nähe auf Sylt. Ausgerechnet er, der alle Nase lang eine eingebildete Krankheit gehabt hatte, war der Gesündeste von allen. Dummerweise hatten die drei sich verzankt und redeten seit Jahren nicht mehr miteinander. Ob er trotzdem etwas über Mutter wusste?
Ich griff zum Telefon. Doch genau in diesem Moment schellte es an der Tür. Der Korbsessel knarrte, als ich aufstand. Mit etwas Glück würde es ein Kunde sein, der für seinen Garten etwas brauchte. Schnell richtete ich meine Frisur, als ich am Dielenspiegel vorbeikam, und öffnete die Haustür mit meinem professionellem „Was-kann-ich-für-Sie-tun“-Lächeln. Allerdings verging es mir gleich wieder, als ich Mirandas Klassenlehrer vor mir stehen sah.
„ Guten Tag, Frau Winter.“
„ Guten Tag, Herr Reimann. Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.“
„ Ich wollte mich nach Mirandas Befinden erkundigen und fragen, ob sie vor den Sommerferien noch zum Unterricht wird kommen können.“
Vermutlich war das ein Irrtum. Es musste ein verdammter Irrtum sein. Wenn nicht, dann …
„ Kommen Sie doch bitte herein.“ Ich öffnete die Tür ein Stück weiter und machte eine einladende Geste, unauffällig um meine Fassung ringend. „Lassen Sie uns in die Küche gehen und bei einer Tasse Kaffee über Miranda sprechen. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.“
Herr Reimann strahlte mich an. „Gern. Sie sind ja berühmt für Ihren Kaffee und die Trostkekse. Miranda hatte früher immer wieder mal welche in die Klasse mitgebracht. Sie sind wirklich köstlich.“
„ Wie meinten Sie das bitte, Herr Reimann, ob sie vor den Sommerferien noch zum Unterricht wird kommen können? Ich verstehe das nicht.“ Ich griff zur Thermoskanne und schenkte uns einen Becher gewürzten Kaffee ein, griff zur Keksdose und stellte sie geöffnet vor ihn hin. Dann setzte ich mich gegenüber an den Tisch und mühte mich redlich, die Fassung zu bewahren.
„ In der Entschuldigung, die Beata aus der Parallelklasse vorbeibrachte, hatten Sie mitgeteilt, dass Miranda … Oh, ich sehe es Ihnen an, liebe Frau Winter. Sie wissen nichts von dem Entschuldigungsschreiben? Und dass Miranda seit zwei Wochen nicht mehr in der Schule war?“
Der Keks, den ich in der Hand hielt, zerbröselte in meiner geballten Faust. „Dieses kleine Biest! Sie kommt jeden Tag pünktlich heim, isst was und verschwindet dann wieder zu Verabredungen. Ich hätte mir was dabei denken müssen, dass sie täglich pünktlich nach Hause kommt und nicht mehr herumstromert. Aber ich dachte, sie gibt sich jetzt mehr Mühe. Sie hat also in Wirklichkeit die Schule geschwänzt! Und dabei hat sie uns erzählt, sie und Frau Liebrecht hätten sich ausgesprochen und gegenseitig entschuldigt.“
Der Lehrer zog seine Augenbrauen hoch und gab einen trockenen, humorlosen Lacher von sich. „Keineswegs. Die Kriegsbeile wurden nie begraben. Wissen Sie, Frau Winter, ich hatte so ein gewisses Gefühl, was Mirandas Abwesenheit und die Entschuldigung angeht. Obwohl die Unterschrift echt wirkt. Haben Sie als Eltern eine Idee, weshalb das Kind sich so verändert hat? Ich habe den Eindruck, dass das Mädchen seine Lernbehinderung nicht mehr akzeptieren kann. Dabei hat sie Fortschritte gemacht, ich
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