Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
vorschlagen, den Sommer bei uns zu verbringen. Mir wäre es lieber, wenn sie hier in der Gegend in ein Pflegeheim kommt. Dann kann ich sie regelmäßig besuchen. Hoffentlich ist sie einsichtig genug.“
„ Johanna und einsichtig? Melli, mein Mädchen, dat kannste knicken.“
„ Wie geht es denn dir, Onkel Walther? Kommst du alleine zurecht mit deinen 90 Jahren?“
„ Da mach dir mal keine Gedanken, meine Gute. Ich habe ´ne Putzfrau und einen jungen Burschen aus der Nachbarschaft, der für mich die schweren Sachen einkauft. Ich bekomme Essen auf Rädern vom Roten Kreuz. Solange ich noch jeden Tag meine Runde spazieren gehen kann, will ich zufrieden sein. Es geht mir gut, wirklich. Nur deine Tante vermisse ich jede Minute meines Lebens. Aber ich bin alt. Mein Trost ist, dass ich bald hinterher gehen kann. Der Herrgott wird wissen, wann es für mich Zeit ist. Und bis es soweit ist, genieße ich die frische Luft und den Anblick des Meeres.“
„ Ach, Onkel Waltherchen, es tut mir alles leid. Ich bin so weit weg und habe mich nicht gut um euch gekümmert.“
„ Na, da mach´ dir mal keinen Kopp drum, du hast doch dein eigenes Leben, deine Kinder, das Geschäft, das Haus. Wann hättest du dich denn um uns kümmern wollen? Das geht doch gar nicht. Ist schon alles in Ordnung so. Mit deiner Miri hast du weiß Gott genug Sorgen gehabt. Wie steht es denn um sie? Und wie geht es Hannah? Die müsste doch auch schon auf die Realschule gehen?“
„ Hannah ist schon achtzehn Jahre alt“, lachte ich. „Das ist schon ein ganz großes Mädchen! Sie beginnt jetzt eine Ausbildung in Frankfurt zur Bankkauffrau und wohnt auch dort.“ Ich überlegte kurz, ob ich ihm wirklich von Miri erzählen sollte, von ihrer großen Veränderung, entschied mich dann aber dagegen. „Miri geht weiterhin auf die Förderschule. Sie macht sich ganz gut und beide Mädchen sind gesund. Was will man mehr?“
„ Hannah wohnt in Frankfurt? Du meine Güte, wie doch die Zeit vergeht. Und wie geht es deinem Indianerhäuptling?“
„ Ach, bestens. Du weißt doch, wenn Robert mit seinen Pflanzen und Pflastersteinen zusammen sein kann, ist er glücklich.“
Nachdem wir das Telefonat beendet hatten, ging ich ins Bad zurück und nahm endlich die köstliche Dusche und bat das Wasser, es möge meine Sorgen mit sich nehmen. Doch alles, was wegfloss, war meine Kraft und Zuversicht.
Das Fenster im Schlafzimmer stand offen, als ich im Bett in Roberts Arm eingekuschelt lag und seinem leisen Schnarchen lauschte, was vom Zirpen der Grillen untermalt wurde. Ich ließ meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Was hatten wir doch für eine schöne Zeit gehabt, mein „Indianer“ und ich. Robert gab damals einen Kurs im Gemeindehaus: „Heilkräuter Nordamerikas“. Das war der Tag, an dem wir uns kennenlernten. Gesehen hatten wir uns vorher schon mal, als er die Steine für Miras Kräuterspirale anlieferte. Da war er noch Angestellter einer Gartenbaufirma. Seine Schönheit war mir gleich aufgefallen. Dieses rabenschwarze Haar, diese Augen. Und vor allem die Ruhe, die er ausstrahlte! Als er den Seminarraum betrat, erkannte ich ihn sofort wieder. Es ergab sich, dass wir nach dem Vortrag noch etwas Trinken gingen. Seine Urgroßmutter war eine echte „native American“ gewesen, die einen Weißen geheiratet hatte. Sie war es auch, die ihm, als er noch ein kleiner Junge war, vom Gott Ahk tun o' wihio erzählt hatte, vom Gott, der die Pflanzen wachsen und das Wasser fließen ließ, und er sorgte auch für die Festigkeit des Erdbodens, so dass die Menschen darauf laufen konnten. Robert wusste so viel über die Schöpfungsgeschichte und Kosmologie ihres Stammes. Ich war fasziniert davon. Aus ihrem Erbe stammte auch der Indian Sacred Buckskin, den wir im Wohnzimmer an die Wand gehängt hatten. Robert hatte also echte Tropfen Cheyenne-Blut in seinen Adern und das machte sein Äußeres so reizvoll. Miranda hatte seine Haare und Augen geerbt. Hannah kam mehr nach mir. Ich war froh, dass seine Eltern nach Deutschland übergesiedelt waren, sonst wären wir uns nie begegnet. Wenn Robert müde war, kam sein amerikanischer Akzent ganz leicht durch. Ich mochte das so sehr. Wenn ich ihn necken wollte, nannte ich ihn immer Manitus grünen Krieger . Er wusste so viel über Heilpflanzen, besonders über die zeremoniellen Pflanzen der Prärieindianer. In all den Jahren hatten wir es leider nicht geschafft, mit unseren Töchtern eine Nordamerikareise zu machen. Er
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