Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
nein, das konnte doch nicht sein. Aber ich sah deutlich einen hellen Schimmer über dem Gartendrachen. Eine blasse Kugel aus Licht, etwa faustgroß. Sie vibrierte leicht und wie durch ein Wunder sah ich sie in der Entfernung mit meinen Menschenaugen und gleichzeitig mit meinem Seelenauge ganz nah. Sie fühlte sich lebendig an. Sie … sprach . Aber nicht mit mir. Ich kniff meine Augen fest zu. Das konnte doch nur eine Sinnestäuschung sein. Hervorgerufen durch nervliche Erschöpfung und Überreizung. Als ich meine Augen wieder öffnete, war sie weg. Und Robert auch.
Dann knarrten die Stufen der Treppe. Hatte ich Miri durch meine Unruhe geweckt? Sie schlich auffallend leise, anstatt wie sonst mit festem Schritt zu gehen, egal ob jemand schlief oder nicht. Ich lugte aus der Küchentür und sah, dass sie vollständig angezogen war und eine große Tasche bei sich hatte. Und dann passierte alles gleichzeitig. Sie erschreckte sich bei meinem Anblick, ließ die Tasche fallen und Robert kam durch die Haustür herein. Die Tasche purzelte ihm vor die Füße.
„ Kind, wo willst du hin, mitten in der Nacht?“, fragten wir zugleich.
Ihre Beine schienen nachzugeben, sie setzte sich ruckartig auf die Stufe. Wir sahen, wie ihre Lippen bebten und dicke Tränen kullerten und setzten uns schnell rechts und links an ihre Seite und hielten sie fest im Arm. Es war die Nacht der Tränen. Selbst Robert hatte verquollene Augen.
„ Ich will weg von hier“, klagte Miri. „Wo ich bin, ist Unglück, immer nur Unglück. Ich muss hier weg. Alles geht kaputt. Erst brennt es, dann fällt Oma, dann streitet ihr – alles nur wegen mir, immer wegen mir. Und ich hasse die Schule, ich hasse alles dort. Ich kann da nicht mehr hin. Alles ist so sinnlos, so sinnlos. Ich kann nicht mehr.“
Sie weinte zum Steinerweichen. Robert hob sie hoch, als wäre sie ein kleines Mädchen, und trug sie in unser Bett. Wir nahmen sie in die Mitte, hielten sie und streichelten ihre Hände, bis das Schluchzen und Weinen verebbte und Miri sich beruhigte. Erschöpft schlief sie ein und kuschelte sich an mich. Robert und ich tauschten schweigend einen langen, tiefen Blick aus. Und da wusste ich, alles wird gut und auch ich schlief mit einem tiefen Seufzer ein.
Als ich am frühen Vormittag aufwachte, lag Miri rund wie eine Haselmaus im Bett. Robert war schon aufgestanden und werkelte in der Küche. Kaffee duftete durchs Haus und er hatte, dem appetitanregenden Duft nach, offenbar Pfannkuchen gebacken. Ich streichelte meiner schlafenden Tochter sanft übers Haar, ihr Gesicht war rosig. Behutsam deckte ich sie wieder zu und ging ungekämmt in die Küche runter. Der Tisch war zum Frühstück gedeckt, sogar frische Blumen aus dem Garten standen in der kleinen Kristallvase. Durchs Fenster sah ich, dass Robert jetzt draußen war und mit Matthias sprach. Dieser nickte und fuhr dann allein mit dem Transporter fort zur Arbeit. Mein Mann kam mit festen Schritten ins Haus zurück, nahm mich in die Arme sobald er mich sah und wiegte mich sanft hin und her. Wir gaben uns damit das Versprechen, nie wieder dermaßen zu streiten. Es waren keine Worte nötig. Unsere Herzen sprachen miteinander.
„ Melissa, ich muss dir etwas sagen. Letzte Nacht, als ich im Garten saß, hatte ich eine Art Vision. Ich weiß nicht, ob ich kurz eingeschlafen bin und träumte, oder ob meine Sinne durch die Dunkelheit der Nacht geschärft waren und meine Ahnen zu mir sprachen. Ich sah zwei Raben fliegen. Sie kreisten hoch über einer Herde. Ich konnte nicht erkennen, welche Tiere das waren. In mir war ein Drängen und Rufen, als würde mir jemand sagen: Hole sie. “
Mein Herz schlug schneller, als ich mich an die Lichterscheinung erinnerte. Hatte ich mir das doch nicht eingebildet?
„ Sag, in der Prophezeiung von der alten Mira stand doch etwas ähnliches, nicht wahr?“
„ Ja. Du hast Recht. Ein junger Rabe, der um Hilfe ruft. Berge, eisiger Wind. Eine Herde. Von dort kann Hilfe kommen. Aber der Drache muss erhört werden. Robert, ich glaube, genau das geschah jetzt! Miri ist der junge Rabe und du der alte. Ihr habt beide rabenschwarzes Haar, und auch euer Totem ist der Rabe. Die Vision hattest du, als du neben Thaddäus gesessen hast. Ich habe dich durchs Fenster gesehen. Das ist wahrhaftig der einzige Drache weit und breit. Du sollst diese ominösen Herdentiere holen. Aber welche sind das? Und von wo? Und wieso soll das helfen?“
„ Ich habe schon eine Idee. Als ich heute Morgen
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