Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
lassen können, in einen Gully zum Beispiel. Flutsch, weg. Auf Nimmerwiedersehen. Oder dorthin schicken, wo der Pfeffer wächst. Gestern Nacht hatten wir einen fürchterlichen Streit gehabt.
Aus Mirandas Tagebuch
Ich kann mich nicht erinnern, dass Papa und Mama sich jemals so gestritten hätten wie gestern Nacht. Bin davon wach geworden. Mama hat ihm Vorwürfe gemacht. Anstatt auf ihn stolz zu sein! Ich konnte nicht jedes Wort verstehen, aber es ging darum, dass Papa dem Junkie die Ohrläppchen abgeschnitten hat. Mit einem Messer! Unglaublich, das muss man sich mal vorstellen, Papa ist ein echter Krieger! Ich finde das ja so cool. Mama aber meint, damit hätte er mich erst recht in Gefahr gebracht. Was denn gewesen wäre, wenn der Junkie sich Verstärkung geholt hätte, oder nun erst recht Rache üben gewollt hätte. Er wäre der verantwortungsloseste, sich selbst überschätzende Vater, den sie jemals gekannt hätte. Und sein Indianer-Sein wäre doch nur ein Hirngespinst. Wie kann sie ihn nur so beschimpfen? Papa ist ein Held, ein mutiger Mann. Ich liebe ihn. Mama ist viel zu zimperlich und immer auf Ordnung und Ruhe bedacht. Und jetzt will sie auch noch Oma in ein Heim stecken. Aber was bleibt uns auch übrig? Oma ist lieb, aber ich werde nie vergessen, wie sie die Küche abgefackelt hat. Die ist ja eine echte Gefahr für die Menschheit geworden. Und nun ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Das ist meine Schuld, ich habe nicht auf sie aufgepasst. Und am Streit bin ich auch schuld. Wäre ich damals nicht auf den Kappelberg gegangen, hätte ich nicht den Hahn beschützen müssen. Dann wäre der blöde Typ nicht auf die Idee gekommen mich zu verfolgen und mir Angst zu machen und Papa hätte mich nicht beschützen müssen. Ich war´s also. Ich habe die Ehe meiner Eltern kaputt gemacht.
Ich sag ja: ich ziehe das Unglück an. Ich bin auch eine echte Gefahr. Wie Oma, nur anders.
Wieder ist es Nacht. Mein Mann liegt nicht neben mir im Bett. Am frühen Abend hat er das Lindenhaus verlassen. Meine Tränen versiegen nicht. Nie zuvor waren wir uns innerlich so fern und fremd. Ich weiß, ich habe seine Gefühle verletzt. Ich habe seine Männlichkeit verletzt und missachtet. Es tut mir so unendlich leid, aber ich bin mir auch sicher, dass er in seinem Wunsch, Miri zu beschützen und den Mann zu bestrafen, zu weit gegangen war. Das sagt doch allein schon die Vernunft, oder nicht? Aber was war schon Vernunft in solch einer Situation? Woher hätten wir denn wissen sollen, was man in solch einer Lage macht. Die Polizei war auch nicht sonderlich hilfreich gewesen, denn Gesetze banden ihnen die Hände. Es ist die heilige Pflicht eines jeden Mannes, seine Familie zu beschützen… Ein Ehrenkodex. Sein Kodex. Und ich habe ihn mit meinen Vorwürfen beschmutzt. Konnte ich das jemals wieder gut machen? Ich verließ mein Bett, um mir das Gesicht zu waschen, zu kühlen, doch die Tränen wollten nicht aufhören zu fließen. Ich sehnte mich so sehr nach Roberts Umarmung. Wollte, dass alles wieder gut sei. Dass er mich wieder bei meinem Kosenamen nannte.
Wo ist er?
Ich gehe langsam die Treppe hinunter, ohne Ziel. Meine nackten Füße tragen mich ins Wohnzimmer. Ich kauere mich in den Korbsessel und nehme meinen Lieblingsamethyst in die Hand. Aus der Tiefe meiner Erinnerungen taucht ein Bild von Mira auf, wie sie, umgeben von brennenden Kerzen, in Trance geht und ihren Engel aus der Stille ihres Herzens anruft. Und da bricht es aus mir, aus der Tiefe meiner Seele heraus, ich schicke ein Gebet um Hilfe in den Himmel, ich rufe nach meinem Engel aus ganzem Herzen. Wortlos ist dieser Schrei, stumm, und doch so mächtig. Ich flehe um Kraft und Weisheit und Führung, denn ich schaffe das nicht mehr allein. Ein Beben durchläuft meinen Körper, der Amethyst in meinen Händen wird heiß. Und dann war es vorbei. Ich wurde ganz ruhig und der Amethyst kühlte in Sekundenschnelle ab. War mein Gebet erhört worden?
Auf einmal war ich hungrig. Ich stand auf und ging müde in die Küche, um nach der Keksdose zu suchen. Vielleicht waren dort noch Trostkekse. Viel zu lange hatte ich schon keine mehr gebacken. Ich fand die Dose auf der Fensterbank, wo sie überhaupt nicht hingehörte. Und dann sah ich ihn durchs Fenster: Robert saß im Garten unter der Linde im sanften Schein einer Gartenfackel. Endlich war er heimgekehrt! Sprach er? Seine Lippen bewegten sich, das konnte ich trotz der Dunkelheit der Nacht erkennen. Und ich sah … -
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